Wir gehen dann schon mal vor. Wie viel Ungleichzeitigkeit verträgt Europa?

Almut Moeller │ 19. Februar 2012



Krisen begleiten die Entwicklung der EU seit jeher. Doch die jüngsten Ereignisse stellen das Projekt Europa ernsthaft auf die Probe. Die Union erfindet sich in der Krise neu. Sie hat keine andere Wahl. Ihr Gesicht wird am Ende dieses Prozesses ein anderes sein: Kerneuropa nimmt Gestalt an.

Almut Möller

Idee mit Sprengkraft

Bereits 1994 konstatieren Wolfgang Schäuble und Karl Lamers, der europäische Einigungsprozess sei „an einen kritischen Punkt seiner Entwicklung gelangt“.[1] Die Institutionen seien überdehnt, die Interessen klafften immer stärker auseinander. In allen EU-Ländern sei ein „tiefer wirtschaftsstruktureller Wandel“ zu meistern und fast überall in der Union komme es zu einem „regressiven Nationalismus“ sowie einer „sehr starken Inanspruchnahme“ und Schwächung nationaler Regierungen und Parlamente. Beide skizzieren als Ausweg aus der Krise die Konturen eines „Kerneuropa“.

In den letzten Monaten hat die EU unter dem Druck der Krise Schritte in Richtung Kerneuropa gemacht. Die 17 Euro-Länder haben unter dem Druck der Finanzmärkte beschlossen, einen neuen Vertrag abzuschließen, der ein erster Schritt zu einer echten Wirtschafts- und Währungsunion werden könnte. Bei aller Kritik an der Substanz des Vertrags – die Marschrichtung ist klar: weitere Aufgabe nationaler Souveränität.

Die Idee, Vertiefung und Erweiterung durch „verschiedene Geschwindigkeiten“ in Einklang zu bringen, besaß in der EU 1994 wie heute Sprengkraft. Hartnäckig hält sich das Ideal der einheitlichen Rechtsgemeinschaft. Differenzierung gilt trotz bewährter Ausnahmen wie dem Euro und dem Schengen-Abkommen oder explizit zur Differenzierung geschaffenen Instrumenten wie der „verstärkten Zusammenarbeit“ als notwendiges, zeitlich begrenztes Übel, ist jedoch noch kein akzeptiertes Gestaltungsprinzip. Einer differenzierten Union, so die Befürchtung, drohe rechtliche Zerfaserung, die Ausgrenzung einzelner Länder und das Ende der Einheit.

Kerneuropa weil Kerneuropa?

Wie viel Ungleichzeitigkeit verträgt eine „immer engere Union der Völker“? Es ist ein Balanceakt, einen hinreichenden Stand des „Gemeinsamen“ in der Union zu bewahren und zu verhindern, dass miteinander konkurrierende Systeme entstehen, die eine gemeinsame Stoßrichtung unmöglich machen und die EU als Ganzes schwächen. In diesen Tagen stellt sich die Frage nach dem „wie viel“ an unterschiedlichen Geschwindigkeiten mit neuer Dringlichkeit. Was ist, wenn das Ende der gemeinsamen Währung droht? Wenn die Fliehkräfte so stark sind, dass die Dämme brechen und die Union auseinanderfällt? Ist dann nicht das Voranschreiten einer Gruppe von EU-Ländern geradezu geboten, auch wenn bisherige Gewissheiten über Bord geworfen werden müssen? Aus integrationspolitischer Sicht ist das die Entscheidungsfrage der Euro-Krise. Noch nie in ihrer Geschichte stand Europa als Modell dermaßen unter Druck. Kommt jetzt Kerneuropa, weil Kerneuropa kommen muss?[2]

Den ersten Schritt in Richtung stärkerer Integration haben die Euro-Länder mit dem „Fiskalvertrag“ vollzogen, der im März in die nationalen Ratifizierungsverfahren gehen soll – nicht weil sie von Integrationsbegeisterung getrieben waren, sondern aus schlichter Notwendigkeit. Bemerkenswert ist, es handelt sich bei diesem „Kern“ keineswegs nur um willige und fähige Euro-Länder. Ein entscheidendes Problem wird sein, was passiert, wenn sich dieser „Kern“ dauerhaft als nicht gesund erweist?

Fiskalvertrag wird Trennlinie

Bereits seit den Gipfelbeschlüssen vom Oktober 2011 ist die Marschrichtung klar. Die (noch) 17 Euro-Länder schließen sich enger zusammen, festigen eigene Institutionen und Verfahren und grenzen sich dabei viel deutlicher als bisher von den Nicht-Euro-Ländern ab. Die Überwachung der nationalen Haushalte soll gestärkt und schrittweise auch die Wirtschaftsintegration vertieft werden. Ein „Euro-Gipfel“ bestehend aus den Staats- und Regierungschefs der Euro-Länder und dem EU-Kommissionspräsidenten wurde offiziell etabliert; er soll mindestens zwei Mal im Jahr tagen, vermutlich sehr viel häufiger.

Acht von zehn Nicht-Euro-Ländern bekundeten Interesse, sich dem Vertrag über die neue Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion anzuschließen. Momentan ist die Einlösung dieser Zusage offen, denn hier entscheiden nationale Parlamente mit. Aber selbst wenn die Nicht-Euro-Länder dem neuen Vertrag beitreten, kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Trennlinie de facto zwischen den 17 Euro-Ländern und dem Rest verläuft.

Großbritanniens “No” ist der Grund dafür, warum die Euro-Länder ihre neuen Regeln nicht auf der Grundlage des Lissabon-Vertrags mit Unterstützung aller EU-Mitglieder organisieren konnten. Stattdessen mussten sie auf das Modell eines völkerrechtlichen Vertrages außerhalb des Lissabon-Vertrags ausweichen. Diese Entwicklung lässt die EU-Rechtsgrundlagen nicht nur noch komplexer werden. Es stellt sich auch immer stärker die Frage des gegenseitigen Verhaltens von europäischem Recht innerhalb wie außerhalb der Gemeinschaft.

Panzerfaust auf Europäisch

Die jüngsten Beschlüsse sind sicher nicht die „Bazooka“, die der britische Premier Cameron im Kampf gegen den Druck der Finanzmärkte im Sinn hatte. Aber sie sind eine „Panzerfaust auf Europäisch“, da sie mit einer neuen Zentrum-Peripherie-Logik letztlich zu einer völlig neuen Union führen könnten. Dabei droht das Verhältnis zwischen den „ins“ und „outs“ der Euro-Zone zur neuen Trennlinie in der EU zu werden. Denn der wesentliche Unterschied zwischen der neuen Euro-Zone und den schon heute praktizierten Formen unterschiedlicher Geschwindigkeiten liegt darin, dass es sich um eine neue Qualität der abgestuften Integration handelt. Die Unterschiede zwischen „ins“ und „outs“ werden möglicherweise in Zukunft dermaßen verstärkt, dass Kern und Peripherie sich zu weit voneinander entfernen.

Zwar werden die Euro-Länder weiter beteuern, dass sie sich nicht als exklusiver Club verstehen, sondern in ihren Entscheidungsprozessen auch gegenüber Nicht-Euro-Ländern transparent und jederzeit offen für neue Mitglieder sind. Dennoch bleibt in der Zwischenzeit die Frage der Organisation des Verhältnisses von Euro- und  nicht-Euro-Staaten. Eine Spaltung der EU lässt sich langfristig ebenso wenig ausschließen wie die Perspektive einer Euro-Zone, die umgeben ist von einer losen Peripherie. Fürs Erste bereiten sich die Euro-Länder auf die nächste Runde institutioneller Weiterentwicklung vor. Das Gesicht der EU wird am Ende dieses Prozesses ein anderes sein: Kerneuropa nimmt Gestalt an. Die Union erfindet sich in der Krise neu. Sie hat keine andere Wahl.

 
ALMUT MÖLLER ist Leiterin des Alfred von Oppenheim-Zentrums für Europäische Zukunftsfragen im Forschungsinstitut der DGAP.

  • [1] CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag: Überlegungen zur europäischen Politik, 1.9.1994, www.cducsu.de/upload/schaeublelamers94.PDF.
  • [2] In dem Bewusstsein, dass es in der Integrationstheorie einen nuancierten Umgang mit Begriffen wie „Kerneuropa“, „variabler Geometrie“ oder „konzentrischer Kreise“ gibt, wird hier der Begriff „Kerneuropa“ zur Zuspitzung der Argumentation verwendet, wobei es sich in diesem Verständnis dezidiert um einen offenen und keinen geschlossenen Kern handelt, der explizit auf den Beitritt weiterer EU-Länder angelegt ist.

2 Kommentare

  1. thomas wagner Says:

    Auch wenn es in diesem Beitrag zwischen den Zeilen durchaus anklingt, würde ich gerne nochmal explizit darauf hinweisen, dass alle derzeitigen Entwicklungen von nackter Angst getrieben sind. Der Druck, der die griechische Regierung von einem drakonischen Sparpaket zum nächsten treibt, ist der gleiche, der auf europäischer Ebene immer neue Mechanismen, Verpflichtungen und Auseinandersetzungen verursacht. Das Projekt einer europäischen Verfassung, war auch einmal so ein Integrationsprojekt, welches nur unter gänzlich verschiedenen Umstanden vorangetrieben wurde, bis es letztlich scheiterte. Stehen wir also immer noch an dem Punkt, nur unter dem Diktat rücksichtsloser Transformationsprozesse, zu einem (mehr oder weniger) vernünftigen “Reagieren” fähig zu sein? Ich bezweifle, dass auf diesem Weg ein innovatives Zukunftskonzept für Europa entstehen wird.

    Der Erfolg der europäischen Integration entscheidet sich meines Erachtens nach an vor allem an einer dringlichen Frage, die vor einem Jahr noch täglich in den Medien aufgeworfen wurde und nun (erstaunlicher Weise) gänzlich verschwunden ist. Wird die europäische Union zu einer Transferunion? Wird es einen europäischen Finanzausgleich nach deutschem Vorbild geben? Wer kann schon sagen, ob es, im Zuge weiterer wirtschaftlicher Verwerfungen an der europäischen Peripherie, nicht auch zu gefährlichen Zerreissproben kommt, welche die europäische Idee eher diskreditieren, als befördern?

    Letztlich hat Europa gar keine andere Wahl, als sich weiter zu integrieren. Es wird sich aber zeigen, ob der Preis dafür ein breiter Delegitimationsprozess in den europäischen, wie nationalen Institutionen ist, oder ob in den Wandel auch die (momentan eher bescheidenen) Mitbestimmungsmöglichkeiten der Menschen mit einbezogen werden. Würde man hier vorausschauend handeln, ließe sich sicherlich der ein oder andere, absehbare Kollateralschaden an der europäischen Idee vermeiden.

  2. Christopher Lehnert Says:

    Die Chance der Europäischen Finanzkrise

    Die letzten Monate und Jahre standen im Zeichen des Wortes Krise. Wirtschafts-, Finanz- und Vertrauenskrise sind allesamt Ausdruck einer sich rapide ändernden Welt. Dabei steht oft der belastende Anteil des Wortes Krise im Vordergrund. Entscheidungsträger hingegen sehen auch den kreativen Anteil, und beschwören Solidarität, Solidität und Wachstum. Die vorläufigen Lösungen wirken dabei aber visionslos und scheinen mehr einem Überbrücken der aktuellen Lage zu dienen, als einem wirklichen Schritt nach vorne in eine stabile Zukunft mit soliden Rahmenbedingungen.

    Dabei sind die momentane Probleme Produkt einer zögerlichen Politik. Amerikanische Ökonomen haben sich schon früh über die einheitliche europäische Geldpolitik gewundert, der ihr natürliches Pendant - eine einheitliche Fiskalpolitik - fehlt. Um derzeitig makro-ökonomisch Einfluss auszuüben, muss die EZB Staatsanleihen verschiedener Staaten im Verhältnis zu einander verkaufen oder kaufen, damit der Geldfluss in der EU stabil bleibt. Somit ist ein wichtiges Instrument zur Unterstützung der Märkte ineffektiv. Notkredite und Garantieren, wie sie der Europäische Stabilitätsmechanismus verspricht, wirken daher auch nur bedingt vertrauenserweckend, wenn das Konstrukt an sich fragil ist. Die geplante Fiskalunion ist daher unbedingt notwendig, und eine Einführung von Euro-Bonds unausweichlich.

    Deutschland sollte dabei Vorreiter sein und sich vehement dafür einsetzen. Ähnlich wie in den 50er Jahren der Marshall-Plan als Initialzündung und Symbol des Fortschritts wirkte, ist es nun an Deutschland, den Wohlstand in Europa voranzutreiben und zukunftsweisende Programme einzuleiten. Die gute wirtschaftliche Ausgangslage sollte dabei als Verpflichtung gesehen werden - nicht als Ruhepolster. Zu groß sind die Herausforderungen, die sich durch neue Kräfteverhältnisse in der Welt ergeben. Im neuen Konzept der Bundesregierung zum Umgang mit neuen Gestaltungsmächten ist die Rede von einem einheitlichen Umgang mit Partnern. Dabei ist es wichtig, dass gerade auch aus ein Europa das Signal von größerer Eintracht gesendet wird.

    Die Einführung eines koordinierten gesamteuropäischen Haushaltes sollte daher ohne Sonderwege und Klauseln durchgeführt werden. Zudem sollte sich Deutschland für die Einführung einer europaweiten Steuer einsetzen, die im geringen Maße auf jeden Bürger fällt. Die generierten Mittel sind reales Geld, das zum Schuldenabbau genutzt werden kann, gleichzeitig die Last der Finanzkrise auf die Bürger Europas verteilt und somit eine echte Chance für Solidarität bietet.

    Oft wird in Diskussionen von einem Europa ohne europäische Identität gesprochen, dem die demokratische Legitimität fehle. Davon zeugen unter anderem die Proteste gegen die aktuellen Stabilitätsmaßnahmen in Griechenland, aber teilweise auch der Diskurs in Deutschland. Die Bewältigung der Krise bietet daher die Chance, Identität zu stiften und der Europäischen Union Legitimität zu verleihen. Das gemeinsame Bewältigen von Problemen kann zu einem stärkeren Gemeinschaftsgefühl führen und Vertrauen untereinander aufbauen. Die deutsche Außenpolitik sollte sich daher bemühen, die Gemeinschaft stärker zu fördern und nachhaltige Programme einzuleiten, die Stabilität in Europa und somit auch in Deutschland garantieren.

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