Europa 2025 - Ein Brief an den Hohen Vertreter

Alexander Graf Lambsdorff │ 03. Februar 2012



Im Jahr 2025 kann Europa stolz auf sich sein, bilanziert Alexander Graf Lambsdorff, MdEP. Es war 2012 nicht zu erwarten, aber entgegen aller negativen Prognosen entwickelte sich Europa zu einem kompletten und handlungsfähigen Akteur. 

Brüssel, den 9. Mai 2025

Sehr geehrter Hoher Vertreter,

Alexander Graf Lambsdorff, MdEP

heute auf den Tag genau vor 75 Jahren verkündete Robert Schumann seine Vision von einem überstaatlichen Europa. Angesichts dieses bedeutsamen Jubiläums, der aktuellen, turbulenten Ereignisse in Nagornij-Karabach an unserer südöstlichen Grenze sowie Ihrer bevorstehenden Ansprache vor dem Plenum des Europäischen Parlaments, halte ich es für angebracht, Bilanz zu ziehen und einige grundlegende Fragen in Bezug auf unsere gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik zu stellen.

Wie erfolgreich vermitteln wir unsere Werte in der Welt? Besitzen wir in strategisch wichtigen Regionen genügend politisches Gewicht? Verfügen wir seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Zagreb und der anschließenden Einführung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik (EASP) vor acht Jahren über mehr strategischen Tiefgang? Welche Möglichkeiten der Einflussnahme und der Handhabung von Konflikten in unserer Nachbarschaft bieten sich uns nach dem Abschluss des Erweiterungsprozesses? Sind die Strategien, die wir gegen globale Herausforderungen wie Klimawandel, Energiesicherheit und Cyber-Terrorismus entwickelt haben aus Ihrer Sicht erfolgreich gewesen?

Noch vor 15 Jahren erschien der Gedanke an ein wirklich strategisches Europa nahezu utopisch. Doch so wie wir phönixhaft aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs emporstiegen, haben wir Europäer auch heute noch die außerordentliche Fähigkeit, uns immer wieder neu zu erfinden. Als am Anfang des letzten Jahrzehnts, als Folge der wirtschaftlichen Probleme und dem Gefühl der Entfremdung in einer globalisierten Welt, die Gespenster der Renationalisierung von europäischer Politik und gar des Nationalismus ihr Unwesen trieben, wagten nur Wenige, die Fortschritte die seither erzielt wurden, vorauszusagen.

Und Fortschritt, so scheint es, wurde auch diesmal aus der Not heraus geboren. Die Ereignisse in Anschluss an den arabischen Frühling von 2011 hatten wieder einmal deutlich gemacht, dass gemeinsames europäisches Handeln unabdingbar ist. Letztlich wuchsen wir an diesen Herausforderungen und lernten sie zu meistern. Hierbei half zweifelsohne der allmähliche Sinneswandel, der in den letzten Jahrzehnten innerhalb unserer Gesellschaften stattfand. Die europäischen Bürger haben es verstanden, die veränderten Umstände in der europäischen Nachbarschaft und die globale, gegenseitige Abhängigkeit, mit der Zeit immer mehr als Chance, denn als Bedrohung zu begreifen.

Im Anschluss an den iranischen nuklearen Sprengkopftest von vor zehn Jahren gelangten auch die zögerlichsten Entscheidungsträger der EU-Mitgliedstaaten endgültig zu der Erkenntnis, dass überholte Souveränitätsvorstellungen überwunden werden mussten und dass ein tragfähiger supranationaler Mechanismus erforderlich wurde, der es uns ermöglicht, große sicherheitspolitische Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen. Angesichts des grenzüberschreitenden Charakters vieler aktueller Bedrohungen sowie der zunehmenden Bedeutungslosigkeit nationaler Grenzen, gilt dies heute mehr denn je. Letztlich gelang es uns auf diese Weise, die einst als heilige Kühe geltenden Politikfelder endlich zu vergemeinschaften.

Wir können heute mit Fug und Recht behaupten, den Übergang von einem fast gänzlich zivilen, zu einem kompletten und handlungsfähigen Akteur geschafft zu haben, der, wenn erforderlich, seine Werte und Interessen mit der nötigen Vehemenz durchzusetzen weiß. Die Einführung der EASP im Jahr 2017 war in diesem Zusammenhang ein Meilenstein für die EU. Durch die Neuerungen findet eine ausführliche Berichterstattung durch - und zähe Anhörungen für - Botschafter und hochrangige Diplomaten im Europäischen Parlament statt, der Institution, wo die Außenpolitik Europas grundsätzlich am lebhaftesten diskutiert wird. Innerhalb des Rates verfügen wir durch die Einführung der qualifizierten Mehrheit über ein funktionierendes Abstimmungsverfahren, welche der EU erst den ihr gebührenden Platz in der internationalen Diplomatie beschert hat. Trotz dieses erweiterten Spielraums, haben wir noch nie gegen das Prinzip verstoßen, nur auf Gewaltanwendung zurückzugreifen, falls die Sachlage es eindeutig erfordert. Wenn es jedoch zu einer solchen Situation kommt, sind wir dank einer schlanken und straffen europäischen Armee heute dazu in der Lage, diese effizienter zu bewältigen. Deren Einsatz ist von der Zustimmung der sich aus den Mitgliedern der nationalen Volksvertretungen und des Europäischen Parlaments zusammengesetzten Paritätischen Parlamentarischen Versammlung (PPV) abhängig.

In diesem Zusammenhang ist es außerordentlich erfreulich, dass der EU-Verteidigungsminister letzte Woche endlich vermelden konnte, dass Ende des Jahres zwei weitere Mitgliedstaaten den Europäischen Verteidigungsstreitkräften (EVSK) beitreten werden. Unser Europa der Verteidigung hat sich kontinuierlich von der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit der ursprünglichen acht, zu einer verlässlichen und durchschlagskräftigen Armee entwickelt, die jetzt aus Frauen und Männern aus 29 Mitgliedstaaten besteht. Dies verleiht den gemeinsamen Einsatzentscheidungen des Rates und der PPV eine noch stärkere Legitimität.

Auch in internationalen Foren hat sich der Rahmen der Zusammenarbeit stetig verbessert, seitdem der Grundsatz der absoluten territorialen Souveränität erfolgreich zugunsten von Prinzipien wie der humanitären Intervention und der Schutzverantwortung begrenzt wurde. Staaten sowie die steigende Zahl der nach dem Modell der EU geformten supranationalen Organe werden nun zunehmend dazu angehalten, nicht nur von ihren Rechten Gebrauch zu machen, sondern ihre Verantwortung gegenüber den eigenen Bürgern besser wahrzunehmen. Dies ist auch das Ergebnis der beharrlichen Politik der Demokratieförderung der letzten Jahrzehnte.

Ebenso entschlossen wurde das Ziel der EU-Mitgliedschaft im erweiterten Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verfolgt. Deren Erwerb war keineswegs eine leichte Aufgabe, kann aber zu Recht als eine der größten diplomatischen Errungenschaften der EU bezeichnet werden. Es ist ein Sieg, der die Kräfte im Sicherheitsrat in Einklang mit unserem Gesamtgewicht in der Welt bringt und uns aufgrund der Tragweite der gemeinsamen Entscheidungen auch endlich dazu brachte, unsere außen- und sicherheitspolitischen Vorstellungen viel stärker miteinander in Einklang zu bringen.

Wenn wir wiederholt mit übermäßiger Kritik konfrontiert werden, sollte man sich all diese Leistungen ins Gedächtnis rufen. Und den Schwarzmalern, die jetzt wieder vorschnell vor einem geteilten Europa warnen, würde ich diese enormen Fortschritte vor Augen führen. Dennoch gibt es natürlich weiterhin zahlreiche Bedrohungen, die es mit Nachdruck anzugehen gilt.

Die Ausrichtung unserer Außen- und Verteidigungspolitik benötigt die Unterstützung unserer europäischen Gesellschaft, denn wie kaum ein anderes Politikfeld stützt sie sich auf die Grundüberzeugungen unserer Bürger. Wir müssen daher eine noch tiefere Identifizierung mit unserer gemeinsamen Geschichte, Identität und unserem gemeinsamen Schicksal schaffen. Dies gilt vor allem in Hinblick auf die Balkanländer, wo ungelöste Konflikte noch immer unter der Oberfläche brodeln. Auch in Bezug auf die oben erwähnten Spannungen in Nagornij-Karabach und den anhaltenden Diskussionen über eine mögliche EU-Intervention bestehen starke Differenzen. Doch die vermeintliche Ost-West-Kluft, die oft als Beleg für eine tiefe Spaltung unter den Mitgliedstaaten aufgeführt wird, ist allenfalls eine vorübergehende Erscheinung. Es ist sicherlich richtig, dass es in den Bereichen Diplomatie und Sicherheit regionale Unterschiede bei Wahrnehmung und Prioritätensetzung gibt. Wir müssen daher unsere gemeinsamen Entscheidungen besser und auf eine transparente Weise vermitteln. Aber kontroverse Debatten sind auch ein wesentliches Merkmal einer gesunden Demokratie - wir sollten daher nicht auf sie verzichten.

Trotz der systembedingten, strukturellen Probleme, die unser sperriges und manchmal noch etwas schwerfälliges System mit sich bringt, können wir stolz auf das sein, was wir bisher erreicht haben. Jean Monnet pflegte zu sagen, dass Europa die Summe seiner Krisen sei und dass es durch jede weitere Krise zu wachsen vermag. In den vergangenen 75 Jahren sind wir in Qualität und Umfang stetig gewachsen. Die Vorstellung, dass wir eine gemeinsame Geschichte und ein gemeinsames Ziel teilen, ist lebendiger denn je.

Daher freue ich mich ganz besonders auf Ihre Rede vor dem Parlament und auf die Fortsetzung unserer ertragreichen Zusammenarbeit.

Hochachtungsvoll,

Alexander Graf Lambsdorff
Mitglied des Europäischen Parlaments
Rue Wiertz 60, 1047 Brüssel
Dem ständigen Sitz des Europäischen Parlaments

Dieser Beitrag wurde aus dem Englischen übersetzt und erschien in seiner Original-Fassung in der Reihe „Strategic Europe“, einer Publikation des Carnegie Endowment Europe.

Bildquelle: Gerd Altmann/photoshopgraphics.com  / pixelio.de

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