Eine „politischere“ NATO?

Michael Rühle, Beiträge zur Internationalen Politik & Sicherheit 01/2006, 19.08.2006

Ex-Bundeskanzler Schröder lehnte sie ab, seine Nachfolgerin Merkel forderte sie: eine „politischere“ Rolle für die NATO. Doch was ist mit dem Schlagwort eigentlich gemeint? Und wie könnte die NATO diese Forderung umsetzen? Michael Rühle, Leiter des Planungsreferats der Politischen Abteilung der NATO, macht sich in den „Beiträgen zur Internationalen Politik & Sicherheit“ 01/2006 der „Arbeitsgemeinschaft Internationale Politik und Sicherheit (AGIPS, Bonn)“ dazu Gedanken.

Die Forderung nach einer politischeren Rolle für die NATO ist nicht so radikal, wie es scheint. Die transatlantische Sicherheit wird durch neue Gefahren bedroht, der Charakter militärischer Missionen hat sich gewandelt und neue sicherheitspolitische Akteure haben die Weltbühne betreten. Diese Entwicklungen erzwingen eine Veränderung der Art und Weise, wie die NATO kämpft und sich selbst sieht.

Wenn die NATO eine politischere Rolle annehmen möchte, müsste sie insbesondere drei Dinge ändern:

  1. Die Mitgliedsstaaten des Nordatlantikpaktes müssen eine breite sicherheitspolitische Debatte führen: Sie werden unterschiedlich stark durch neuen Bedrohungen wie der Terrorismus, der Proliferation und die gescheiterten Staaten (failed states) gefährdet und könnten daher zu Alleingängen neigen. Der bislang die Allianz prägende Sicherheitskonsens ist im Zuge des Irakkrieges verloren gegangen und kann nur durch den erwähnten Diskurs wiederhergestellt werden.
  2. Die NATO muss auf den politischen Prozess in ihren Einsatzgebieten Einfluss nehmen. Sie darf nicht länger nur die Truppen für Friedensmissionen stellen und andere Akteure der internationalen Gemeinschaft über den Frieden verhandeln lassen.
  3. Die Sicherheitsallianz muss verstärkt sowohl mit staatlichen als auch mit nicht-staatlichen Akteuren reden. Der Wiederaufbau eines Landes im Rahmen einer Friedensmission kann heutzutage nämlich nur gelingen, wenn die beteiligten militärischen und zivilen Akteure sowohl vor Ort als auch auf höherer institutioneller Ebene eng zusammenarbeiten. Die Beziehungen der NATO zu UN und EU zu verbessern ist daher eine der wichtigsten Aufgaben der kommenden Jahre.

Die NATO hat auf den ersten beiden Themengebieten bereits Fortschritte gemacht:

  1. NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer forderte die Mitgliedsstaaten der Allianz auf, mit einer neuen „Streitkultur“ Fahrt in die Debatte um die Zukunft der NATO zu bringen. Mit Erfolg: Die Außen- und Verteidigungsminister tauschen sich mittlerweile informell aus, der Nordatlantik-Rat verschafft sich mehr Zeit zur Diskussion und die NATO-Botschafter treffen sich zu Brainstormings.
  2. Die NATO beteiligt sich stärker am politischen Prozess in ihren Einsatzgebieten: Sie förderte die regionale Zusammenarbeit auf dem Balkan, sucht nach einer Lösung im Streit um den Status des Kosovo und hilft beim Wiederaufbau Afghanistans mit.
  3. Die Allianz kooperiert noch nicht so gut mit den anderen internationalen Akteuren, insbesondere das Verhältnis zur Europäischen Union ist durch Nervosität geprägt. Eine strategische Partnerschaft NATO-EU ist allerdings notwendig, da die Sicherheitslandschaft des 21. Jahrhunderts eine Verzahnung von militärischen, politischen und wirtschaftlichen Instrumenten verlangt.

Gleichzeitig bietet die Forderung nach einer politischeren Rolle für die NATO ein Risiko: Die Mitgliedsstaaten könnten sich durch die Diskussion auch wieder stärker entfremden.

Zusammenfassung erstellt von Matthias Tonhäuser (23.08.2006)