Transatlantische Konflikte als Folge „zunehmender Nähe“

Karsten D. Voigt │ 12. Januar 2016



Karsten VoigtDer deutsch-amerikanische Streit um TTIP, um den Datenschutz, um die Grenzen der Meinungsfreiheit bei Facebook berühren Konflikte, die früher primär innenpolitischer, heute aber sowohl innenpolitischer, wie außenpolitischer Natur sind. Aus dieser zunehmenden Entgrenzung der Innenpolitik entstehen neue transatlantische Reibungsflächen, schreibt der ehemalige Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit.

Karsten Voigt, der auch Mitglied des Beirats der Atlantischen Initiative ist, analysiert die lange Geschichte der deutsch-amerikanischen Missstimmungen, Konflikte und schweren Krisen. Er zieht zwar eine überwiegend positive Bilanz, warnt aber auch, dass „man sich niemals darauf verlassen könne, dass transatlantische Krisen von selber überwunden werden.“ Daher müsse jede Generation aufs Neue an der Überwindung von Meinungsunterschieden und dem Aufbau neuer Gemeinsamkeiten arbeiten.

Als ich 1969 zum Bundesvorsitzenden der Jungsozialisten gewählt wurde, war der spätere US-Botschafter, John Kornblum, als junger Diplomat in Bonn. Viele Jahre später erzählte er mir, dass nach diesem Juso-Kongress die Stimmung unter den US-Diplomaten von der Furcht vor einer künftigen tiefen Krise in den transatlantischen Beziehungen geprägt war: „Wenn diese Generation der Jungsozialisten einmal die Führung der SPD oder - noch schlimmer - die Führung der Bundesregierung übernehmen würde, dann würden die Beziehungen zwischen den USA und Deutschland von Konflikten und Misstrauen beherrscht sein“, war die vorherrschende Analyse. Ähnlich skeptisch äußerte sich Henry Kissinger mir gegenüber, als Joschka Fischer Außenminister wurde. Diese pessimistischen Zukunftsszenarien haben sich als falsch erwiesen.

Seit der Gründung der Bundesrepublik haben die Beziehungen zu den USA ihre Außenpolitik, jedoch auch ihre Innenpolitik geprägt. Auch in Zukunft werden die USA der wichtigste Partner Deutschlands außerhalb der Europäischen Union bleiben. Bei allen Unterschieden zwischen den USA und Deutschland: Ihre gemeinsamen Interessen und Werte dominieren. Aber es ist in ihren Beziehungen in den vergangenen Jahrzehnten auch immer wieder zu Missstimmungen gekommen: Einige verflogen schnell. Andere entwickelten sich zu schweren Krisen.

Trotz der im Rückblick überwiegend positiven Bilanz, wird man sich niemals darauf verlassen können, dass transatlantische Krisen von selber überwunden werden. Im Gegenteil! In der Politik gibt es kein Gesetz der Serie, erst recht nicht einer positiven. Deshalb wird jede Generation aufs Neue an der Überwindung von Meinungsunterschieden und dem Aufbau neuer Gemeinsamkeiten arbeiten müssen. Dies gilt umso mehr, als sich die deutsche und die amerikanische Politik in den kommenden Jahren angesichts völlig neuer Herausforderungen bewähren muss.

Mein bis dahin überwiegend positives Bild von der amerikanischen Politik wurde das erste Mal während der Ungarn-Krise im Jahre 1956 erschüttert: In meiner Schulklasse waren damals über die Hälfte Jungen, die nach dem Aufstand am 17. Juni 1953 mit ihren Familien aus der SBZ (sowjetisch besetzte Zone) geflohen waren. Wir waren deshalb mehr als andere Schüler an den Entwicklungen östlich der Bundesrepublik interessiert. Bei mir hatte die Rhetorik der damaligen amerikanischen Regierung den Eindruck erweckt, als würden die USA den ungarischen Demokraten gegen die sowjetischen Truppen zur Hilfe eilen. Der Widerspruch zwischen der amerikanischen Rhetorik und ihrem für mich dazu - aus meiner damaligen Sicht - im Gegensatz stehenden Verhalten nahmen der roll-back-Rhetorik des amerikanischen Außenministers, John Foster Dulles, jegliche Glaubwürdigkeit.

Nach dem Bau der Mauer im Jahre 1961 nahm ich das Verhalten der amerikanischen Regierung als ambivalent wahr: Einerseits bestätigten die US-Panzer am Checkpoint Charlie die amerikanischen Sicherheitsgarantien für West-Berlin. Andererseits wurde endgültig klar, dass die amerikanische Militärmacht unverzichtbar zum Schutz des Westens, aber ungeeignet und letzten Endes auch weitgehend irrelevant beim Streben nach Veränderungen im Osten Deutschlands und Europas war. Präsident Kennedy flog zwar später - meiner Meinung nach viel zu spät - nach Berlin und wurde dort bejubelt. Aber trotz allem Jubel: Ich begriff, dass amerikanische und deutsche Prioritäten nicht immer identisch waren. Die damaligen Erfahrungen veranlassten Willy Brandt und Egon Bahr zur Entwicklung ihrer Ostpolitik. Mich führten sie aus ähnlichen Gründen kurz nach dem Mauerbau in die SPD.

Die auf 1961 folgenden Jahrzehnte wurden im Grundsatz von einer gleichbleibenden Konstellation geprägt: Der deutschen Politik war stets bewusst, dass sie für ihre Ost- und Deutschlandpolitik der Rückendeckung durch die USA bedurfte. Gleichzeitig war den Politikern in Washington und Bonn auch klar, dass dabei die Sichtweisen, Ziele und Methoden keineswegs immer identisch waren. Wenn man Egon Bahr und Henry Kissinger über diese Zeit sprechen hörte, konnte man diese Gleichzeitigkeit von intensiver Zusammenarbeit und wechselseitigen Vorbehalten deutlich spüren. Deutsche und amerikanische Ostpolitik hatten zum Teil unterschiedliche Motive. Aber sie ergänzten sich in ihren Ergebnissen.

Der Vietnam-Krieg hat die Beziehungen verschiedener Bundesregierungen zu den USA nicht wesentlich beeinflusst. Aber er veränderte das Bild der USA in einer ganzen Generation. Zwar konnten sich die jungen Deutschen meiner Generation mit dem interamerikanischen Widerstand gegen die Politik der US-Regierung identifizieren. Bei unserer Wahrnehmung der USA aber dominierten die Handlungen der US-Regierungen und damit ein negatives Bild. Willy Brandt hat sich damals darüber empört, dass ich ihm öffentlich eine mangelnde Kritik an der Vietnam-Politik der USA vorwarf. Er sah durch diesen Vorwurf seine moralische Integrität infrage gestellt. Und vor allem um diese moralische Integrität ging es: Westliche Werte wurden durch westliche Politik verraten. Ein Vorwurf damals und später erneut wieder bei Bush‘s Krieg im Irak.

Die schwache Reaktion der USA und anderer NATO-Mitglieder auf den Putsch griechischer Obristen  im April 1967 verstärkte den Verdacht, dass für die USA geostrategische Erwägungen Vorrang vor dem Respekt vor demokratischen Werten habe. Nachdem im August 1968 sowjetische Truppen das Experiment eines „Sozialismus mit menschlichen Antlitz“ gewaltsam beendeten, verfestigte sich in den Kreisen der undogmatischen Linken das Narrativ, dass die beiden Weltmächte, USA und Sowjetunion, insofern einander ähnlich seien, als sie die Grenzen des demokratischen Selbstbestimmungsrechts in ihren jeweiligen Einflussbereichen von ihren geostrategischen Interessen abhängig machten. Als wir im August 1968 in Frankfurt-Niederrad mit roten Fahnen vor der sowjetischen Militärmission gegen die sowjetische Invasion in der Tschechoslowakei demonstrierte, wurde diese nicht nur durch die deutsche Polizei, sondern auch durch amerikanische GIs geschützt. Unser Verdacht verstärkte sich, als im September 1973 - unter amerikanischer Mitwirkung - die demokratisch gewählte linke Regierung Allende durch einen blutigen Militärputsch gestürzt wurde.

Der Vietnam-Krieg, die Militärputsche in Griechenland und Chile haben die demokratische Glaubwürdigkeit der USA erschüttert. Aber sie haben nicht zu schweren Konflikten zwischen den Regierungen geführt. Anders beim Jom Kippur-Krieg im Jahre 1973. Damals haben die USA , ohne vorher die Bundesregierung zu informieren, geschweige denn um deren Genehmigung zu bitten, Waffen an Israel geliefert. Nachdem diese Waffenlieferungen eine Zeitlang hingenommen wurden, protestierte das Auswärtige Amt gegen die weitere Nutzung von Bremerhaven für diese Zwecke (Bundeskanzler Willy Brandt scheint damals eine andere Haltung als Außenminister Scheel eingenommen zu haben). Dies empörte die USA und natürlich auch Israel.

Bei diesem Konflikt spielten zwei Probleme eine Rolle, die auch in den folgenden Jahrzehnten immer wieder zu Reibereien führten: 1. Wieweit die deutsche Solidarität mit Israel durch die Rücksicht auf arabische Stimmungen und Interessen begrenzt würde und 2. Wieweit das Verhalten amerikanischer Regierungsstellen auf deutschem Boden die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigte. Der letzte Punkt ist für das Verständnis des aktuellen Konfliktes um das Verhalten der National Security Agency zentral. Als ich einige Zeit nach dem Ende des Jom Kippur-Krieges zum ersten Male nach Washington reiste, wurde ich - damals war ich noch kein Bundestagsabgeordneter - im State Department danach gefragt, wie ich als deutscher Politiker in einer solchen Situation entschieden hätte. Meine Antwort war damals, dass für mich derartige amerikanische Waffenlieferungen von deutschem Boden ohne vorherige Information und Genehmigung der Bundesregierung inakzeptabel seien. Ich hätte aber einer entsprechenden amerikanischen Anfrage mit Blick auf unsere Beziehungen zu Israel zugestimmt.

In der zweiten Hälfte der 70er begannen Fragen der Nuklearstrategie und damit verbundene Fragen der nuklearen Rüstungskontrolle die transatlantischen Beziehungen zu belasten. Die damit verbundenen Konflikte verliefen nicht entlang der nationalen Grenzen. Die Friedensbewegung in Deutschland protestierte zwar vorwiegend gegen die Politik verschiedener US-Administrationen. Zu einem erheblichen Teil aber demonstrierten sie damit auch gegen Entscheidungen, die die USA unter Mitwirkung und zum Teil auch erst aufgrund des Drängens der Bundesregierung getroffen hatte:

In der öffentlichen Meinung der Bundesrepublik dominierte seit Kriegsende eine antinukleare Stimmung. Sie richtete sich anfangs vor allem gegen die Lagerung von Nuklearwaffen auf deutschem Boden und erst recht gegen die von Franz Josef Strauss damals noch gewünschte deutsche Verfügung über Nuklearwaffen. Die Nutzung ziviler Nukleartechnologien fand dagegen noch eine Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung. Das änderte sich allmählich im Laufe der 70er. Bundeskanzler Schmidt und seine Regierung befürworteten dagegen nicht nur einen Ausbau der zivilen Nutzung der Nuklearenergien, sondern auch die Modernisierung von Nuklearwaffen als Teil der westlichen Abschreckungsstrategie.

Als die USA und die Sowjetunion sich auf ein SALT-Abkommen einigten, neigte Helmut Schmidt angesichts der Übermacht der Sowjetunion und ihrer Verbündeten im Bereich der konventionellen Waffen dazu, einer Stationierung von Neutronenwaffen zuzustimmen, es sei denn die Sowjetunion würde als Ergebnis von Rüstungs-Kontrollverhandlungen zum Abbau ihrer konventionellen Waffen bereit sein. Als die Sowjetunion mit der Stationierung von SS 20-Mittelstreckenwaffen begann, fürchtete Helmut Schmidt, dass die im SALT-Vertrag vereinbarte Parität im strategischen Bereich, die Sowjetunion im Krisenfall zu einer nuklearen Erpressung des Westens verleiten könnte. Die zwischen den USA und der Sowjetunion vereinbarte Parität würde dazu führen, dass bei gleichzeitiger Überlegenheit der Sowjetunion in anderen Bereichen die amerikanische Sicherheitsgarantie an Glaubwürdigkeit verlieren würde. Insofern war Helmut Schmidts Rede vor dem Londoner IISS im Jahre 1977 vor allen Dingen eine Misstrauenserklärung gegenüber Präsident Carter. Diese Vorbehalte verstärkten sich bei Helmut Schmidt, als Jimmy Carter im Jahre 1978 überraschend und ohne Konsultation seiner Verbündeten auf die Herstellung der Neutronenwaffe verzichtete.

Jimmy Carter und seine Entscheidungen im Bereich der Nuklearwaffen und seine Initiativen gegen die nukleare Proliferation waren damals in Deutschland bei den eher linken Teilen der deutschen Gesellschaft durchaus populär, zum Teil populärer als die von Helmut Schmidt. Mich haben damals Helmut Schmidts militärische Gründe für die Entwicklung und Stationierung von neuen US-Mittelstreckenwaffen nicht überzeugt. Ich hielt auch nach dem SALT-Abkommen, die vorhandenen amerikanischen Nuklearwaffen für glaubwürdig genug, um die Sowjetunion vor militärischen Abenteuern in Europa abzuschrecken. Allerdings glaubte ich nach zahlreichen Reisen in die UdSSR nicht, dass die Sowjetunion ohne die Androhung einer Stationierung von amerikanischen Mittelsteckenwaffen zur Verringerung oder gar zum Abbau ihrer Nuklearwaffen bereit sein würde. Mit Vorrang für die Rüstungskontrollpolitik stimmte ich dann im Jahre 1979 dem NATO-Doppelbeschluss zu. Damals war ich noch der Sprecher der SPD-Linken. Meine Haltung zum NATO-Doppelbeschluss hat dann dazu geführt, dass ich 1982 vor allem auf Betreiben von Oskar Lafontaine abgelöst wurde.

In den folgenden Jahren führte die Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses immer wieder zu schweren Belastungen des deutsch-amerikanischen Verhältnisses. Im Verhältnis zwischen den Regierungen ging es dabei während der Zeit der Reagan-Administration vor allem um die Bedeutung der Rüstungskontrolle. Ihr wurde von den USA eine geringere Bedeutung eingeräumt als in Deutschland. Und es ging auch um die Rhetorik und Politik gegenüber der Sowjetunion. Wer - wie Präsident Reagan - von der Sowjetunion als dem „Reich des Bösen“ sprach, war in Deutschland friedenspolitisch unglaubwürdig. Die Vorbehalte gegenüber der Reagan-Administration waren in der deutschen Bevölkerung wesentlich größer als in der Regierung. Das Misstrauen dieser Teile der deutschen Bevölkerung richtete sich aber nicht nur gegen die USA, sondern auch die eigene Regierung. Der Konflikt mit der eigenen politischen Basis wurde schließlich zum wichtigsten Grund für das Scheitern der Regierung Schmidt.

Kein transatlantisches Konflikt-Thema hat in den folgenden Jahren so zahlreiche Menschen zu Demonstrationen bewegt, wie der Streit um die Stationierung von nuklearen Mittelstreckenwaffen. Helmut Schmidt hat mit seinen politischen und militärstrategischen Vorstellungen nicht immer recht gehabt. Er hat aber vom Ergebnis her gesehen, historisch recht bekommen. Ich kenne zahlreiche der damaligen Demonstranten, denen es heute immer noch schwer fällt, dies einzugestehen. Wenn in späteren Jahrzehnten die Reste der Friedensbewegung, Mitglieder der Bundestages oder selbst Mitglieder der Bundesregierung das Thema „Nuklearwaffen in Deutschland“ erneut zu thematisierten versuchten, so stießen sie damit nie auf ein öffentliches Echo, das auch nur im Ansatz mit dem Anfang der 80er zu vergleichen gewesen wäre. Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes begann mit der Veränderung der geostrategischen Lage Deutschlands die Angst vor dem Nuklearkrieg auf deutschem Boden zu schwinden.

Nach der Wiedervereinigung Deutschlands änderten sich auch die transatlantischen Streitthemen. Deutschland ist heute von Ländern umgeben, die Freunde sind, Freunde werden wollen oder zumindest behaupten, Freunde zu sein. Das ist die beste geostrategische Lage seit Hunderten von Jahren. Aus diesem Grunde ist Deutschland heute auch anders als während des Kalten Krieges als Exporteur von Sicherheit und Stabilität gefragt. Während des Kalten Krieges waren die potentiellen Konfliktlagen und das damit verbundene Einsatzspektrum der Bundeswehr klar. Das ist heute anders. Das macht Entscheidungen schwieriger, erhöht aber zugleich ihre Dringlichkeit.

Am Beginn des Golfkrieges im Jahre 1991 konnte Helmut Kohl noch behaupten, dass das Grundgesetz einer deutschen Beteiligung entgegenstünde. Er beschränkte sich mit diesem Argument auf die finanzielle Unterstützung des US-Einsatzes. Man hätte von deutscher Seite auch ehrlicher sagen können, dass es unklug sei, solange die sowjetischen Truppen noch nicht vollständig aus Deutschland abgezogen worden waren, deutsche Soldaten in Militäreinsätze ins Ausland zu schicken.

Aber auch in Teilen der Friedensbewegung veränderten sich im Vergleich zu den Debatten über den NATO-Doppelbeschluss die Konstellationen: Eine Minderheit derjenigen, die gegen den NATO-Doppelbeschluss demonstriert hatten, zeigten Verständnis für das amerikanische Vorgehen gegen Saddam Hussein. Andere demonstrierten gegen den „Krieg am Golf“ und vermieden bewusst Demonstrationen dort, wo amerikanische Soldaten und Kriegs-Material nach dem Golf verladen wurden. So starteten monatelang amerikanische Transporter vom militärischen Teil des Frankfurter Flughafens - in Sichtweite aller zivilen Passagiere - ohne dass es zu  Auseinandersetzungen wie Anfang der 80er kam.

Der im Jahre 2003 von Präsident Bush begonnene Golfkrieg fand vor einem völlig veränderten Hintergrund statt: Unmittelbar nach den terroristischen Angriffe auf New York und Washington kam es in Deutschland zu spontanen Sympathiebekundungen für die USA. Bundeskanzler Schröder versprach den USA die „uneingeschränkte Solidarität“ der Deutschen. Und es blieb nicht bei Worten. In Abkehr von deutschen Nachkriegstraditionen beteiligte sich die Bundeswehr am Militäreinsatz in Afghanistan. Die Zusammenarbeit der Nachrichtendienste wurde intensiviert und gemeinsame Strategien gegen den internationalen Terrorismus entwickelt.

Als Präsident Bush aber die Anschläge von 9/11 zum Vorwand für einen völkerrechtswidrigen Krieg  gegen den Irak nahm, änderte sich die Stimmung in der deutschen Bevölkerung schnell. Zwischen den Regierungen kam es zu einer der schwersten Krisen der Nachkriegszeit. Schröders „Nein“ zum Irak-Krieg war auch aus heutiger Sicht berechtigt. Sein „Nein“ stand in Übereinstimmung mit den völkerrechtlichen und friedenspolitischen Prinzipien der deutschen Nachkriegspolitik. Seine Rhetorik dagegen - insbesondere seine Rede in Goslar - wurde vom gleichzeitigen Bundestagswahlkampf beeinflusst.

Wenige Tage nach Kriegsbeginn fuhr ich in die USA. Es ging mir darum, einer dauerhaften Beschädigung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses entgegen zu wirken. Dies entsprach auch den Zielen der Bundesregierung. Sie hatte sich zwar mehr als deutlich gegen den Krieg und damit gegen die Politik der Regierung Bush ausgesprochen. Gleichzeitig aber hatte sie keinerlei Einwände gegen die Nutzung amerikanischer Basen in Deutschland. Das hielten die USA für selbstverständlich. Wie man aber am Verhalten der türkischen Regierung sehen konnte, war es dies keineswegs. Hätte die damalige Bundesregierung sich so wie die türkische Regierung verhalten, so wäre der bittere Konflikt zwischen der Bush-Administration und der Regierung Schröder/Fischer zur Ursache einer dauerhaften Krise in den transatlantischen Beziehungen geworden.

Die Bundesregierung ging noch einen Schritt weiter: Sie stellte 8000 Soldaten der Bundeswehr zum Schutz der amerikanischen Militärbasen zur Verfügung. Damit trug sie indirekt dazu bei, dass sich die Zahl der einsatzfähigen Soldaten der USA erhöhten. Die Bundesregierung war gegen den Krieg der USA. Aber natürlich war sie trotzdem dafür, dass die USA diesen Krieg gewönnen. Und sie suchte nach neuen Gemeinsamkeiten. Hieraus entstand die Zusammenarbeit mit dem Ziel, die Entwicklung einer iranischen Atombewaffnung zu verhindern.

Als ich bei meinem Besuch in den USA erläuterte, wie Deutschland trotz seines eindeutigen und prinzipiellen „Neins“ zum Irak-Krieg die USA mehr als einige der Staaten unterstützten, die sich lautstark auf die Seite der USA geschlagen hatten, wurde dieses Verhalten als selbstverständlich abgehakt. Das war es aber keineswegs. Diese Hilfen standen in einem Spannungsverhältnis zum Artikel 26 des Grundgesetzes, der der Bundesregierung die Vorbereitung an einem Angriffskrieg untersagte und ein gegenteiliges Verhalten unter Strafe stellte. Wenn ich damals in Deutschland im Zusammenhang mit der praktischen Unterstützung der USA der Vorwurf des Verstoßes gegen den Artikel 26  erhoben wurde, antwortete ich ausweichend.

Die terroristischen Anschläge auf New York haben die USA im Inneren und in ihrem Verhalten zu ihrer Umwelt dauerhaft verändert. In der ewig umstrittenen Balance zwischen Sicherheit und Freiheit hat das Pendel in Richtung Sicherheit ausgeschlagen. Zwar zeichnen sich inzwischen kleinere Korrekturen ab. Im Vergleich zu vor 9/11 ist aber die Betonung des Faktors Sicherheit geblieben. Als ich in 70ern während des „Deutschen Herbstes“ auf einem College in Arkansas unterrichtete, wurde in den deutschen Maßnahmen gegen den Terrorismus eine Wiederbelebung des deutsche Autoritarismus gesehen. Heute höre ich eher den Vorwurf, dass die Deutschen wegen ihrer Geschichte Hemmungen hätten, entschlossen genug gegen die terroristischen Gefahren vorzugehen.

Die Kontroverse über das Vorgehen der NSA gehören in diesen Kontext: Die amerikanischen Geheimdienste spielten auch in der Vergangenheit eine andere und wichtigere Rolle als die deutschen Nachrichtendienste. Verdeckte Militäroperationen auf dem Boden anderer Staaten und dies auch noch ohne vorherige Autorisierung durch das Parlament und gezielte Tötungen von vermuteten Terroristen durch Drohnen wären in Deutschland ein Verstoß gegen die Rechtsordnung. Wenn führende deutsche Politiker und Diplomaten davon ausgingen, dass ihre Telefone und Computer von dem amerikanischen Verbündeten nicht ausgespäht würden, so war dies naiv. In Amerika, Großbritannien und einigen anderen NATO-Staaten schließt Freundschaft Spionage nicht aus. Viele meiner amerikanischen Gesprächspartner vermuten, dass dies - im Gegensatz zur deutschen Praxis - auch deutsche Politik sei. Es ist eine Illusion der deutschen Politik, wenn sie hofft, dass sie die USA dazu bewegen könnten, sich der deutschen Praxis anzupassen. Wir werden mit dieser Differenz der politischen Kulturen auch in Zukunft nüchtern und möglichst unemotional umgehen müssen.

Deutschland und die USA berufen sich im Grundsatz auf die gleichen Werte. Aber sie praktizieren im Einzelfall eine unterschiedliche Hierarchie der Werte. Auch ihre politischen Kulturen, ihre Geschichte und ihr Selbstverständnis unterscheiden sich. Je mehr man sich um ein Verständnis dieser Unterschiede bemüht, desto konstruktiver kann man mit Differenzen umgehen. Dies wird in Zukunft noch wichtiger als in der Vergangenheit werden: Deutschland wird sich in Zukunft am Rande und außerhalb Europas verstärkt außen- und sicherheitspolitisch engagieren müssen. Diese Rolle ist für Deutschland neu. Und bei der Ausfüllung dieser Rolle sind wir verständlicherweise noch ungeübt und unsicher. Dafür sollten die USA Verständnis und Geduld aufbringen. Andererseits sollte Deutschland auch weiterhin nicht nur Partner sondern auch Gegenpart sein, wenn die USA - wie mit dem Irak-Krieg - zusätzliche Instabilität verursachen, statt Stabilität zu fördern.

Zunehmend haben die USA und Europa nicht nur außenpolitische, sondern auch innenpolitische Beziehungen. Der Streit um TTIP, um den Datenschutz, um die Grenzen der Meinungsfreiheit bei Facebook berühren Konflikte, die früher primär innenpolitischer, heute aber sowohl innenpolitischer, wie außenpolitischer Natur sind. Aus dieser zunehmenden Entgrenzung der Innenpolitik entstehen neue Reibungsflächen. Die sich daraus ergebenden Konflikte sehen  manche Beobachter als Anzeichen der „Entfremdung“. Ich sehe sie dagegen als Folge zunehmender Nähe. Durch wachsende Nähe entsteht nicht immer eine größere Sympathie, sondern häufig auch zusätzliche Reibungsflächen. Außenpolitiker auf beiden Seiten des Atlantiks müssen in Zukunft mehr als bisher lernen mit diesen „Problemen der Nähe“ umzugehen.

Karsten D. Voigt war von 1976 bis 1998 Mitglied des Bundestags, seit 1983 als außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, bis 1998 Vorsitzender der deutsch-russischen Parlamentariergruppe. Von 1999 bis 2010 war er Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit. Karsten Voigt ist Mitglied des Präsidiums der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und des Beirats der Atlantischen Initiative.
Dieser Text erschien zuerst in der Zeitschrift der „American Akademie“ im September 2015

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