Urbanisierung und Digitalisierung

Redaktion │ 14. Januar 2014



Liebe Leser,

im Jahr 2030 werden über 60 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben – und sie werden hauptsächlich mittels internetbasierter Digitaltechnik kommunizieren. Das Entstehen einer Digitalmoderne und scheinbar unaufhaltsame weltweite Urbanisierungsprozesse gehören zu den prägenden Mega-Trends der nächsten 20 Jahre. Ihre ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen und Implikationen stehen im Zentrum der auf den folgenden Seiten vorgestellten Studien und Bücher und eines Vortrags, den Benjamin Barber auf der diesjährigen Falling Walls Konferenz in Berlin hielt.

In “Breaking the Walls of the Nation-State through interdependent Cities” prognostizierte Barber, dass die Metropolen der Welt die tonangebenden politischen Einheiten der Zukunft seien. Im Gegensatz zum Nationalstaat haben sie das Potential, die nötige Problemlösungskompetenz zu entwickeln, um in einer globalisierten Welt zu bestehen.

Die dafür notwendigen Erfolgsfaktoren und Kriterien entwickeln die Unternehmensberatung McKinsey und die amerikanische Brookings Institution in ihren neuesten Studien zur Urbanisierung. „How to make a city great“ bzw. „The 10 Traits of Globally Fluent Metro Areas“ bieten einen Leitfaden für Bürgermeister und Stadtverwaltungen, die ihre Städte erfolgreich im internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe und Kapital positionieren und die Lebensqualität ihrer Bürger nachhaltig verbessern wollen.

In seinem neuen Buch „Wir sind die Stadt!“ legt Hanno Rauterberg dar, wie sich solch eine Verbesserung mithilfe der neuen Kommunikationstechniken gerade in den Metropolen Nordamerikas und Europas vollzieht. Er zeigt auf, wie eine junge Mittelschicht in der Digitalmoderne eine neue urbane Öffentlichkeit entstehen lässt. David Harvey hingegen versucht die Leser seines aktuellen Beitrages „Rebel Cities“ für die enormen sozialen und ökonomischen Probleme, die mit den Verstädterungsprozessen in den aufstrebenden Schwellenländern verbunden sind, zu sensibilisieren.

Um den Blick von den urbanen auf die gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen der neuen digitalen Kommunikationstechnik zu weiten, werden abschließend die neuen Bücher von Zygmunt Bauman und David Lyon und Michel Serres besprochen: Während die beiden Soziologen in „Liquid Suveillance“ die ausgreifenden Überwachungs- und Disziplinierungsgefahren der digitalen Kommunikationstechnik sehen, betont der Philosoph Serres in seinem Essay „Erfindet euch neu!“ ihre befreiende und emanzipative Dimension.

Viel Spaß beim Lesen und ein frohes, erfolgreiches Jahr 2014 wünschen Ihre

Jan-Friedrich Kallmorgen & Dr. Johannes Bohnen

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Inhaltsverzeichnis

Städte sind die politischen Einheiten der Zukunft
Erfolgsrezepte heutiger Großstädte I
Erfolgsrezepte heutiger Großstädte II
Licht und Schatten der urbanen Zukunft
Licht und Schatten der digitalen Zukunft

 

Städte sind die politischen Einheiten der Zukunft

“Breaking the Walls of the Nation-State through interdependent Cities. How a Global Parliament of Cities Can Establish a Sustainable Democracy”
Autor: Benjamin R. Barber, Quelle: Falling Walls Conference Berlin

Gehörte das 19. Jahrhundert den europäischen Großmächten, erlebte das 20. Jahrhundert den Aufstieg des Nationalstaats als dominanten Akteur der Weltpolitik. Welche Einheit wird das 21. Jahrhundert bestimmen? Die Antwort: kosmopolitische Weltstädte.

Während Städte für Jahrtausende als zentrale Akteure die Weltgeschichte prägten, setzte im 17. Jahrhundert die Entwicklung von Nationalstaaten ein. Die oft von hohen Stadtmauern umgebenen städtischen Zentren erwiesen sich als zu unflexibel und zu klein – Flächenstaaten hingegen gelang der Aufbau effizienter Verwaltungen und belastbarer Machtstrukturen, sodass sich die nationalstaatliche Logik in den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen durchsetzen konnte.

Konzepte politischer Organisation werden somit heute stark mit Staaten assoziiert. So besteht in demokratischen Staaten auch stets der höchste Anspruch an eine unabhängige und legitime Regierung auf nationaler Ebene. Souverän ist in erster Linie das Wahlvolk eines Staates, nicht etwa die Bevölkerung einer Stadt.

Im Zuge der Globalisierung zeigt sich jedoch immer wieder, dass heute auch Staaten mit der Lösung dringender Probleme überfordert sind. Der effektiven Steuerung von Migrationsströmen und der Bekämpfung von Seuchen beispielsweise sind Nationalstaaten nicht mehr gewachsen; auch die Probleme des Klimawandels können unmöglich durch uni- oder bilaterale Abkommen gelöst werden.

So erweisen sich die traditionellen, auf der Souveränität von Flächenstaaten aufbauenden internationalen Systeme als ungeeignet, um die komplexen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern. Wie früher die Befestigungsanlagen der Städte sind es heute die unflexiblen Grenzen der Staaten, die ihre Handlungsfähigkeit bei den wichtigsten Themenfeldern der Zukunft stark einschränken.

Nun zeigen hingegen wieder die großen Städte flexible Strukturen, die sie als neue zentrale Akteure qualifizieren: Mega-Cities auf der ganzen Welt sprechen die gleiche Sprache und sind bestens durch Infrastruktur und den Austausch materieller und immaterieller Güter miteinander vernetzt. Es liegt daher nahe, globale Probleme zunehmend auf „international“-kommunaler Ebene anzugehen.

Zukünftig werden somit die Bürgermeister großer Städte wie London, Berlin oder São Paolo verstärkt Schlüsselrollen übernehmen. In den internationalen Beziehungen könnten sie die politischen Vertreter der nationalen Ebene teilweise ersetzen; Abkommen würden demnach nicht mehr nur zwischen Staaten, sondern auch direkt zwischen Städten abgeschlossen. Dafür spricht insbesondere, dass die meisten großen Städte vor ähnlichen Problemen stehen und daher auch ein großes Interesse an einer gemeinsamen Lösungsfindung haben.

Während das politische Leben auf nationaler Ebene in den meisten Staaten von parteipolitischen Positionen und machtpolitischem Kalkül geprägt ist, zeigen sich die Bürgermeister großer Städte als eher unabhängig von der nationalen Parteienlandschaft und beweisen sich im Alltag als pragmatische Problemlöser. Dies scheint in erster Linie auf ihre Zuständigkeiten zurückzuführen zu sein, schließlich verlangen kommunale Themen wie Abfallentsorgung und Ausbau der städtischen Infrastruktur nach effektiven Lösungen und weniger nach politischer Ideologie.

Die zentralen Themen des 21. Jahrhunderts haben in den Städten konkrete Auswirkungen. Somit bietet sich eine entsprechend pragmatische Lösungssuche auch bei globalen Fragen an. Fast alle Mega-Cities kämpfen gegen Luftverschmutzung und überlastete Infrastruktur, alle bemühen sich um sozialen Frieden und die Generierung von nachhaltigem Wirtschaftswachstum durch verbesserte Ausbildung. Somit lassen sich die großen Fragestellungen auf die kommunale Ebene herunterbrechen. Statt der Staatschefs könnten sich zukünftig die Bürgermeister bedeutender Städte beraten, um die richtigen Antworten zu finden. Durch enge städteübergreifende Zusammenarbeit zwischen den Behörden gelingen bereits jetzt große Erfolge in der Verbrechensbekämpfung; im Rahmen von Städtepartnerschaften entstehen institutionalisierte Formen des Austauschs zwischen den Entscheidungsträgern.

Hierfür spricht auch, dass auf kommunaler Ebene politische Beteiligung weniger abstrakte Formen annimmt als auf nationalstaatlicher Ebene. Menschen identifizieren sich sehr stark mit ihrer Stadt, auch sind sie mit den Problemen, mit denen sich Politik und Verwaltung beschäftigen, oft täglich konfrontiert. Sie kennen die verschiedenen Facetten ihrer Stadt als Wohnort und Arbeitsplatz, somit sind sie oft auch bereit, sich bei kommunalpolitischen Themen zu engagieren. Damit verleihen die Bürger ihren Vertretern auf Stadtebene eine große Legitimität, die wichtigsten Zukunftsthemen zu verhandeln. So sind die Bürgermeister immer nah bei den Bürgern und durch den vernetzten Charakter moderner Großstädte gleichzeitig die Hauptdarsteller von morgen auf der Bühne der internationalen Politik.

 

Erfolgsrezepte heutiger Großstädte I

“How to make a city great“
Autor: Shannon Bouton et al., Quelle: McKinsey Global Institute.

Im Jahr 2030 werden über fünf Milliarden Menschen – 60 Prozent der Weltbevölkerung – in Städten leben. Die ökologischen und sozialen Herausforderungen dieser scheinbar unaufhaltsamen Urbanisierung sind enorm: Schon heute sind Städte für 70 Prozent des globalen Treibhausgasausstoßes verantwortlich. Weltweit leben gut eine Milliarde Menschen – 32 Prozent der urbanen Bevölkerung – in Slums. Was muss eine Stadt tun, um diese und weitere Herausforderungen zu meistern?

Während Bürgermeister in Entwicklungsländern einer Urbanisierung von nie dagewesenem Umfang und Geschwindigkeit gegenüberstehen, haben ihre Amtskollegen in den Industriestaaten mit einer alternden Infrastruktur und überdehnten Budgets zu kämpfen. Sie alle stehen im interkommunalen Wettbewerb um Investoren und Fachkräfte mit dem Ziel, die Lebensqualität ihrer Bürger zu verbessern – entgegen aller besagten Widrigkeiten. Indessen bricht sich da wie dort die Einsicht Bahn, dass Städte nachhaltiger und ressourceneffizienter werden müssen, wollen sie ihre Lebensqualität und Wettbewerbsfähigkeit nicht unwiederbringlich durch katastrophale Umweltzerstörungen verlieren.

Um die zentralen Prozesse und Orientierungspunkte zu identifizieren, die Städte diesen Kampf erfolgreich bestehen lassen, hat die Unternehmensberatung McKinsey & Company eine umfassende Datenbank anhand einer Vielzahl von Wirtschafts-, Sozial-, und Umweltindikatoren erstellt. Aus 80 Fallstudien und Gesprächen mit 30 Bürgermeistern aus vier Kontinenten filterte sie heraus, was den Erfolg einzelner Städte ausmacht. Im Fokus waren hierbei ihre Reformanstrengungen hinsichtlich ihrer öffentlichen Dienstleistungen, die Konsolidierung ihrer Haushalte und die Effektivität und Effizienz von großen Infrastrukturprojekten.

Städte schaffen den erfolgreichen Wandel, wenn sie sich an diesen Richtlinien orientieren:

Während Bürgermeister in Entwicklungsländern einer Urbanisierung von nie dagewesenem Umfang und Geschwindigkeit gegenüberstehen, haben ihre Amtskollegen in den Industriestaaten mit einer alternden Infrastruktur und überdehnten Budgets zu kämpfen. Sie alle stehen im interkommunalen Wettbewerb um Investoren und Fachkräfte mit dem Ziel, die Lebensqualität ihrer Bürger zu verbessern – entgegen aller besagten Widrigkeiten. Indessen bricht sich da wie dort die Einsicht Bahn, dass Städte nachhaltiger und ressourceneffizienter werden müssen, wollen sie ihre Lebensqualität und Wettbewerbsfähigkeit nicht unwiederbringlich durch katastrophale Umweltzerstörungen verlieren.

Um die zentralen Prozesse und Orientierungspunkte zu identifizieren, die Städte diesen Kampf erfolgreich bestehen lassen, hat die Unternehmensberatung McKinsey & Company eine umfassende Datenbank anhand einer Vielzahl von Wirtschafts-, Sozial-, und Umweltindikatoren erstellt. Aus 80 Fallstudien und Gesprächen mit 30 Bürgermeistern aus vier Kontinenten filterte sie heraus, was den Erfolg einzelner Städte ausmacht. Im Fokus waren hierbei ihre Reformanstrengungen hinsichtlich ihrer öffentlichen Dienstleistungen, die Konsolidierung ihrer Haushalte und die Effektivität und Effizienz von großen Infrastrukturprojekten.

Jede Stadt ist einzigartig. Was auch immer ihre Ausgangssituation ist, jede Stadt hat das Potential, sich zum Besseren zu entwickeln. Singapurs Aufstieg vom Kolonialhafen zur Weltfinanzmetropole und die erfolgreiche Abwendung des wirtschaftlichen Niedergangs in den ausgehenden 1960er Jahren in New York sind nur zwei Beispiele. Die Vielfalt an individuellen Maßnahmen, die Stadtoberhäupter nutzen können, um ihre Stadt auf Erfolgskurs zu bringen, macht eine generell-quantitative Beantwortung der Frage nach der ‚urbanen Erfolgsformel’ unmöglich. Dafür lassen sich jedoch gemeinsame Problemkomplexe identifizieren – abgesehen von regionalen, kulturellen und wirtschaftlichen Unterschieden. Die Qualität der Arbeit von Bürgermeistern – ob in Bogotá, Berlin oder Boston – lässt sich an drei Indikatoren ablesen: sie erzielen intelligentes Wachstum, sie nutzen ihre Ressourcen effizienter und sie gewinnen die Unterstützung der Bürger, die von den angestoßenen Veränderungen betroffen sind.

Diese Städte erzielen intelligentes Wachstum:
Intelligentes Wachstum verweigert sich einem rücksichtslosen Wachstumsbegriff. Intelligentes Wachstum heißt nicht: Wachstum um jeden Preis. Vielmehr identifiziert es vor Ort die ertragreichste Wachstumsmöglichkeit, die es, in einem zweiten Schritt, gegen die damit verbundenen ökologischen und sozialen Kosten aufwiegt.

Indem sie sich auf ihre individuellen Wettbewerbsvorteile konzentrierten – bestimmte Fachkräfte, geographische Nähe zu Innovationszentren gute Infrastruktur, geringe Faktorkosten – schafften es die Städte Atlanta und Nashville im Südwesten der USA, sich als attraktiver Standort für ausländische Automobilhersteller zu etablieren. Nach einem ähnlichen Muster gelang es London, ein High-Tech Cluster zu gründen, die sogenannte „Tech City“ im East End der Stadt – die Voraussetzung für die rasante Ansiedlung von Digital- und Kreativfirmen. In den letzten drei Jahren stieg ihre Zahl von 11 auf 300.

Zu intelligentem Wachstum gehört nicht zuletzt ein regionaler und netzwerkorientierter Blickwinkel: das gesunde Wachstum einer Metropole bedingt über kurz oder lang die Kooperation mit den umliegenden Kommunen. Ein Negativbeispiel, wo solche Kooperationsbemühungen nicht angestrebt wurden, ist die Pearl River Delta Region in China. Hier sind nicht weniger als fünf miteinander konkurrierende internationale Flughäfen – in Guangzhou, Shenzhen, Zhuhai, Macau, und Hong Kong – auf einer Fläche von lediglich 100 Quadratkilometern in Betrieb. Die negativen Auswirkungen – verspätete Flüge, zusätzliche Benzinkosten, und Sicherheitsbedenken – konnten erst mit einem Abkommen im Jahr 2012 abgemildert werden.

Diese regionale Perspektive erfordert auch ein Bewusstsein dafür, was es bedeutet, die Peripherie einer Stadt an das Zentrum anzubinden, um allen Einwohnern die Teilhabe am wirtschaftlichen und kulturellen Leben zu ermöglichen. Beispielhaft hierfür ist Boston, dessen südliche Ausläufer bis vor einigen Jahren nur drei Bahnstationen hatten; einige der am dichtest besiedelten und ärmsten Teile der Stadt waren mehr als fünf Kilometer von der nächsten Bahnstation entfernt. Seitdem Boston 37 Millionen Dollar in das dortige öffentliche Verkehrsnetz investierte, hat sich das Bild dieser Stadtteile rapide verändert: über 1,300 Arbeitsplätze wurden geschaffen, nahezu 75,000 Quadratmeter Gewerbefläche wurde erschlossen, und über 1500 Wohneinheiten wurden neu gebaut oder grundrenoviert.

Diese Städte erreichen mit weniger mehr:
Es gibt kaum eine Stadt auf der Welt, die nicht unter chronischen Geldsorgen leidet. Voraussetzung einer erfolgreichen Stadt ist es daher, alle verfügbaren Einnahmen abzuschöpfen und alle Ausgaben einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Darüber hinaus lassen sich neue Wege der Projektfinanzierung finden, beispielsweise durch sogenannte „Public-Private-Partnerships“ (PPP). So sicherte sich beispielsweise London etwa 50 Millionen Pfund (60 Mio. €) von der Bank „Barclays“ mit dem Ziel, das städtische Fahrrad-Sharing zu subventionieren. Weitere 37 Millionen Pfund (44 Mio. €) konnte London von der Fluggesellschaft Emirates Airlines akquirieren, um ein Kabel unter der Themse zu verlegen.

Diese Städte gewinnen Unterstützung für Veränderungen:
Jede Änderung der bestehenden Verhältnisse ist schwierig und provoziert nicht selten Widerstände und Konflikte. Um so wichtiger ist es, dass Städte ihre Projekte nur unter Einbeziehung aller betroffenen Akteure vorantreiben – von der Konzeptions- und Planungs- bis hin zur Implementierungsphase. Erfolgreiche Städte zeichnen sich durch eine motivierte, kompetente, offene und effiziente Exekutive im Rathaus aus: Michael
Bloomberg, langjähriger New Yorker Bürgermeister, verkörperte das Bild des Bürgermeisters als CEO. Sein Verständnis der Stadt als Dienstleistungsunternehmen prägt den Regierungsstil zahlreicher erfolgreicher Stadtreformer weltweit.

Die meisten Stadtoberhäupter sind sich bewusst, dass ihre Amtszeit im Rathaus begrenzt ist. Die Herausforderung liegt darin, über den kurzfristigen Horizont der Wahlperioden zu blicken: Es geht darum, langfristig orientierte Visionen zu formulieren und implementieren. Auf diese Weise können Stadtverwaltungen einen Prozess beginnen, der eine erfolgreiche und lebenswerte urbane Umwelt erhält und diese auch über ihre Amtszeit hinaus weiter fördert.

 

Erfolgsrezepte heutiger Großstädte II

“The 10 Traits of Globally Fluent Metro Areas“
Autoren: Greg Clark/Tim Moonen, Quelle: The Brookings Institution

Im Zeitalter der Globalisierung stehen Großstädte als Drehkreuze und Wirtschaftszentren in internationaler Konkurrenz. Ihr nachhaltiger Erfolg hängt maßgeblich davon ab, wie schnell und effektiv sie sich auf die globale Dynamik einstellen. Anhand von 10 zentralen Erfolgsfaktoren und deren beispielhafte Umsetzung durch Hamburg und Nairobi wird aufgezeigt, wie Mega-Cities Ihre internationale Attraktivität erhalten oder steigern können.

Großstädte entwickeln sich immer stärker zu internationalen Drehkreuzen, über die ein Großteil des Welthandels abgewickelt wird. Da die Globalisierung nicht nur von Warenströmen, sondern auch von einer zunehmenden globalen Mobilität der Menschen geprägt ist, sind Städte auch wichtige internationale Begegnungsstätten. Über sie treten Staaten und Regionen in Kontakt zur Welt. Daher sind sie auch Mediatoren zwischen globalen Akteuren und nationalen Strukturen, deren internationale Wettbewerbsfähigkeit sie somit nachhaltig beeinflussen.

Um diese Rolle erfolgreich zu erfüllen und damit ihre Internationalisierung in ihrem Sinne steuern zu können, müssen Städte die Sprache der Globalisierung sprechen. Die Mega-Cities unserer Zeit zeigen dabei nicht nur unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeiten, sondern vor allem unterschiedliche Herangehensweisen, um sich als globaler Akteur zu positionieren.

Manche Großstädte verfügen bereits durch ihre Geschichte über wichtige Charakteristika, um die Globalisierung mitzugestalten, andere haben sich über die vergangenen Jahrzehnte erfolgreich angepasst und werden dadurch im internationalen Vergleich interessant. Große Herausforderungen bestehen indes für alle Städte gleichermaßen: Während schnell wachsende Metropolen in Entwicklungsländern vor allem Wege finden müssen, um die große Zahl an internationalen Besuchern und Investoren für eine wünschenswerte Dynamik zu nutzen, dürfen etablierte Großstädte nie vergessen, ihre Attraktivität für internationale Talente, insbesondere in Kultur und Wissenschaft, aufrecht zu erhalten. Hierfür muss sich die Stadt stetig neu erfinden, andernfalls droht sie die Kontrolle darüber zu verlieren, welche Stimme sie zukünftig im internationalen Konzert der Städte übernimmt.

Zu den 10 wichtigsten Erfolgsfaktoren gehört zunächst die internationale Orientierung der städtischen Eliten (1). Auch eine traditionell globale Orientierung (2) sowie Spezialisierungen von internationaler Bedeutung (3) bringen Metropolen global nach vorne. Langfristig zählt jedoch vor allem die Anpassungsfähigkeit an globale Trends (4), die nur durch eine „Kultur der Innovation“ (5) entstehen kann. Selbstverständlich muss die Stadt daran arbeiten, im globalen Vergleich attraktiv zu bleiben (6), auch durch eine gute Anbindung an internationale Infrastrukturen (7). Diese erfordert strategische Investitionen (8) und die klare Zielsetzung (9) der Stadtverwaltung, eine globale Rolle zu spielen. Nur dann kann sich eine nachhaltige globale Identität (10) der Stadt entwickeln.

Ein Vergleich der Städte Hamburg und Nairobi kann die jeweiligen Probleme illustrieren und dabei aufzeigen, welche Faktoren sie zu erfolgreichen internationalen Städten machen. Beide Städte sind in etwa gleich groß,
doch ihre Wirtschaftsleistung und die jeweilige wirtschaftliche Bedeutung für ihr Land könnten kaum weiter auseinander liegen: Während Hamburg rund 5 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt Deutschlands beiträgt, wird fast die Hälfte des kenianischen Bruttoinlandsprodukts in seiner Hauptstadt Nairobi erwirtschaftet.

Als traditionsreiche Hansestadt, die ihre Bedeutung bereits seit sieben Jahrhunderten internationalem Handel verdankt, scheint Hamburg zunächst gut gerüstet zu sein für die Herausforderungen der Globalisierung. Zahlreiche Konsulate und Niederlassungen internationaler Organisationen sorgen für gute Kontakte rund um den Globus. Zudem fokussierte Hamburg seine Energie frühzeitig auf den Ausbau der Beziehungen nach Asien und profitiert so vom in den vergangenen Jahren stark gestiegenen Handelsvolumen zwischen Fernost und Europa.

Doch gleichzeitig gefährdet immer stärkere Konkurrenz den Stellenwert des Hamburger Hafens und damit die Bedeutung des Standortes. Die Stadt arbeitet daher kontinuierlich an ihrer Wettbewerbsfähigkeit als Umschlagsort und baut parallel alternative Wirtschaftszweige aus. So hat sich Hamburg zu einem internationalen Hub der Medien- und Kreativwirtschaft entwickelt. Es hat damit seine Fähigkeit bewiesen, sich konstant zu „reglobalisieren“.

Seine Dynamik hat auch Nairobi bereits eindrucksvoll bewiesen: Die Metropole gehört zu den am schnellsten wachsenden Wirtschaftszonen in Afrika. Bereits in der Kolonialzeit wurde Nairobi zu einem wichtigen Handelsdrehkreuz ausgebaut; aus dieser Zeit stammen enge Kontakte in andere ehemalige Kolonien. Heute profitiert die Stadt vor allem von der im Vergleich zu den Nachbarstaaten hohen politischen Stabilität und Sicherheit Kenias. So haben auch zahlreiche internationale Unternehmen in Nairobi ihre Hauptniederlassungen für den afrikanischen Kontinent aufgebaut. Auch eine Weltbank-Filiale und UN-Institutionen finden sich dort.

In den vergangenen Jahren wurde insbesondere der Dienstleistungssektor stark ausgebaut, international möchte sich Nairobi vor allem als Finanzplatz profilieren. Um jedoch mit etablierten Metropolen zu konkurrieren, muss Nairobi auch an der Zuverlässigkeit und Effizienz seiner politischen Institutionen und Verwaltungsstrukturen arbeiten. Für nachhaltigen Erfolg sind auch Investitionen in Infrastruktur notwendig; der konsequente Ausbau des Verbindungsnetzes von Kenyan Airways, insbesondere zu Zielen in Asien, zeigt daher, dass auch Nairobi die Sprache der Globalisierung fließend spricht.

Doch nur wenn (beide) Städte kontinuierlich daran arbeiten, die wichtigsten Erfolgsrezepte immer besser umzusetzen, werden sie sich langfristig im Netzwerk der internationalen Metropolen an zentraler Stelle etablieren. Denn: wie ein Mensch eine Fremdsprache verlernen kann, so befinden sich auch Mega-Cities in der ständigen Gefahr, ihre globale Anpassungs- und Sprechfähigkeit wieder zu verlieren.

 

Licht und Schatten der urbanen Zukunft

Doppelbuchbesprechung von Georg Schmidtgen

Hanno Rauterberg, Wir sind die Stadt! Urbanes Leben in der Digitalmoderne, Berlin 2013.
David Harvey, Rebel Cities, From the Right to the City to the Urban Revolution, London 2013.

Hanno Rauterberg beobachtet das Entstehen einer Digitalmoderne in den Metropolen Westeuropas und Nordamerikas. Ermöglicht und befeuert durch die internetbasierte Kommunikationstechnik schafft die post-materialistische großstädtische Mittelschicht eine neue urbane Öffentlichkeit. David Harvey hingegen wendet seinen Blick auf die ökonomischen, ökologischen und sozialen Problemlagen in den Mega-Cities der aufstrebenden Schwellenländer und erkennt enorme Konflikt- und Krisenpotentiale – auch für die etablierten Industriestaaten.

„Die Stadt ist tot, es lebe die Stadt!“ Das ist das paradoxe Motto des Essays „Wir sind die Stadt! Urbanes Leben in der Digitalmoderne“ von Hanno Rauterberg. Dieser Sinnspruch bezeichnet ein Wiederaufleben einer in diesem Sinne origin-ellen Stadtkultur, die an das alte Polis- und Communitas-Ideal anschließt – jedoch ohne den Bezug auf naturgegebene Gewissheiten.

Rauterberg beobachtet, dass der urbane öffentliche Raum eine Umdeutung erfährt – zumindest in Westeuropa und Nordamerika. Er entwickelt sich zu einem sozialen, ästhetischen, architektonischen und politischen Tummelplatz für post-materialistische (Un-)Sinnsucher. Und dies mithilfe der Technik, die Anfang des 21. Jahrhunderts von der Kulturkritik als Totengräber eines kollektiv-städtischen Lebens angesehen wurde: die digitale und internetbasierte Informations- und Telekommunikationstechnologie.

Die Verbindung von neuem urbanen Kollektivsinn und Gestaltungswillen, der durch die neue Digitaltechnik ermöglicht und ausgelebt wird, ist die „Digitalmoderne“. Sie äußert sich in einer Vielzahl von Phänomenen: Outdoor Clubbing, Guerilla Gardening, Containern, Adbustern, Flashmobs, Carsharing, PARKing, Geocoaching, um nur einige zu nennen. Sie bedeuten eine neue urbane Öffentlichkeit – durchaus mit freundlicher Aufnahme der Stadtverwaltungen.

Mithilfe des Smartphones und neuester Internet-, Fotographie- und Satellitentechnologie entsteht in einer kleinen post-modernen Mittelschicht künstlerisches und politisches Engagement in realiter, fernab von Vereinzelung, Vereinsamung und Hyperindividualismus. Rauterbergs Essay zeigt Ansätze eines Revolutionierungspotentials hinsichtlich der Art und Weise wie konsumiert und produziert wird und wie wir uns von A nach B bewegen – und dabei dürfte klar sein, dass sich diese neue Lebensweise in Ablehnung der drei großen Ks vollzieht: Kapital, Kommerz, Konsum. Vielmehr wird eine neue Commons-Culture hervorgehoben; es geht um Bottom up, Open Source, Open Design, Open Data, Crowdsourcing, Cocreation und Sharing – mieten statt besitzen, flexibel sein statt festgelegt.

Die Wiedereroberung des öffentliches Raums in der Stadt und der Glaube an seine Veränderung driften teilweise ab ins Anarchische und Spielerische; wie beispielsweise die Forderung nach der Beseitigung aller Verkehrsschilder im städtischen Raum zeigt: „Das lineare weicht dem komplexen Denken, alles Getaktete verflüssigt sich, die strengen Grenzen eines genormten Daseins lösen sich auf.“

Dabei wird eines deutlich: Digitalmoderne heißt eben auch: ständige Wechsel und Auflösungen der Kollektive und Handlungen. Es herrscht das Ephemere, das Temporäre, das Unverbindliche. An einer Stelle heißt es: „Das urbane Ego ist nicht asozial, es vernetzt, verbindet sich – und die Digitalmoderne verstärkt die Sozialität, von Ein- und Anbindung“. Nur hat all dies keinen bleibenden Effekt, alles hat Aktionscharakter, jeder entscheidet selbst: Bindung ist jetzt lediglich „commitment“. Und so heißt es zusammenfassend: „Völlig zu Recht ist so »die Wolke« zu einer Lieblingsvokabel der digitalen Gesellschaft geworden, denn vieles in der Digitalmoderne wird diffus, amorph, uneindeutig, beweglich, wolkig eben.“ Rauterberg beobachtet eine Dynamisierung des urbanen Lebens durch die neuen kommunikativen Möglichkeiten. Das Zauberwort heißt „liquid“. Die Grenzen verschwimmen, insbesondere die zwischen privat und öffentlich und sicher und unsicher.

Vielfach entstehen beim Lesen Kippmomente, in denen Utopie in Dystopie umschlägt: Was dem Anarcho-Urbanisten Rauterberg als idyllisch-dynamisches Begeg
nungsszenario aufleuchtet, erscheint dem „gutbürgerlichen“ Zeitgenossen als anstrengende Hölle der Unvorhersehbarkeiten.

Da dies natürlich Randphänomene sind, die breite Teile der Stadtbevölkerung (noch) nicht tangieren, oszilliert die Darstellung zwischen wissenschaftlicher Gesellschaftsanalyse und links-liberalem Wunschdenken und Apell; sie legt sich auch hier nicht fest und ist damit Teil des Phänomens, das sie beschreibt.

Doch das soll nicht heißen, dass Rauterbergs Essay eine unrealistische Spinnerei ist – ganz im Gegenteil: Mit diesen Übertreibungen bietet seine normative Analyse – die durchaus auch Bedenken, skeptische Töne und „Realismen“ gegenüber dieser neuen Urban-Culture beinhaltet – einen unverbrauchten Blick auf die Problemkomplexe des Urbanen und der Urbanisierung. Sie zeigt eine mögliche Zukunft der städtischen Kultur auf – auch außerhalb der OECD-Länder.

Während man also in Rauterbergs Beschreibung der Befindlichkeit einer saturierten, post-modernen Großstadtbohème, die nicht mal mehr einen Sinn in Wohlstandsvermehrung erkennt, den Extrempunkt der geschichtlichen Entwicklung des Urbanen sehen kann – zumindest mit heutiger Vorstellungskraft – , muss David Harvey in seiner Analyse der aktuellen globalen städtischen Konfliktlage zurück ins 19. Jahrhundert gehen – aus seiner Sicht auch ideologisch. Denn: die Weltregionen, die Harvey betrachtet, befinden sich mitten in Industrialisierungs- und Demokratisierungsprozessen mit all ihren Konfliktlagen und offenem Ende. Zentraler Schauplatz sind die exponentiell wachsenden Mega-Cities der aufstrebenden Schwellenländer. Urbanes Leben dort hat nichts mit dem Rauterbergschen Kulturoptimismus zu tun. Der Begriff des Urbanen ist hier mit einer Vielzahl von immensen Problemen und Fehlentwicklungen verbunden.

Die Kombination aus überschüssigem globalisierten Kapital, das nach Anlagemöglichkeiten sucht, billigen Arbeitskräften und staatlichen Infrastrukturprojekten führt laut Harvey zu nicht nachhaltigen Urbanisierungsprozessen – finanziell, ökonomisch, ökologisch, politisch und sozial. Städte fungieren demnach als „Schwamm“ und Konzentrationspunkt für Kapital und Arbeit. Weil urbane Investitionen lange Vorlaufzeiten haben, ein großes Kreditvolumen benötigen und spätere Verwendungen und Auslastungen kaum abzusehen sind, sind sie besonders anfällig für Blasenbildungen. Damit sind und waren sie vielfach Ausgangspunkt für Finanz- und Wirtschaftskrisen – eine Entwicklung, die im Übrigen im Moment wieder zu beobachten ist, auch in Deutschland.

Die Urbanisierungsprozesse in den Schwellenländern sind begleitet von reißenden Migrationsströmen, brutalen Enteignungsprozessen, kaum vorstellbaren Umweltverschmutzungen und wachsenden Ungleichheiten – ein enormes Potential für politische und soziale Konflikte. Als herausragendes Beispiel hat hierbei China zu gelten: Das Ausmaß und die Geschwindigkeit der dortigen städtischen Veränderungen und ihre Konsequenzen für die (Welt-)Wirtschaft, Bevölkerungs- und Sozialstruktur und das politische und ökologische System sind für Harvey kaum zu überschätzen: „The burgeoning social inequalities (China is now third in the number of billionaires in the world), the environmental degradation (which even the Chinese government openly admits), along with multiple signs of overextensions and overvaluation of assets in the built environment, suggest that the Chinese model is far from trouble free, and could easily morph overnight from benefactor to problem child of capitalist development.“

Während also Rauterberg eine Protest- und Aktionskultur beschreibt, die ihre Motivation aus post-materialistischer Langeweile und Desillusionierung bezieht, beobachtet Harvey in den boomenden (!) Schwellenregionen essentielle Konfliktlagen. Es ist zu erwarten, dass die Auseinandersetzungen dort ungleich härter verlaufen werden: „The result of accelerating land dispossessions and inflation has been proliferating unrest. Reports are now coming in from work actions by taxi drivers and truckers (in Shanghai), alongside sudden full-blown factory strikes in the industrial areas of Guangdong in response to low wages, poor working conditions, and escalating prices.“ Statt Dynamisierung: Dynamitisierung des urbanen Lebens.

Man sollte sich bei der Lektüre nicht abschrecken lassen von der martialischen Rhetorik, der gelegentlichen Anwendung der Arbeitswerttheorie oder den resultierenden Politikempfehlungen. Es braucht nicht zu verwundern, dass der Neo-Marxist Harvey in den beobachteten urbanen Verdichtungs- und Krisenszenarien das Potential für einen Klassenkampf hin zum Systemwechsel sieht („Reclaiming the City for Anti-Capitalist Struggle“) – dafür ist er in seinen Vorschlägen erfrischend präzise und erfindungsreich. Die Analyse schärft den Blick für die außerordentlichen Probleme
und Risiken, die in den Schwellenländern herrschen. Rebel Cities bietet eine unerlässliche Ergänzung zur allgemeinen BRIC-Euphorie und ermöglicht somit ein differenziertes Bild von der Lage. Nicht zuletzt dient das Buch als Weckruf für alle Anti-Marxisten: Durch seine bloße Existenz zeigt es an, dass im Rahmen der sozialen und ökonomischen Schieflagen, die es beschreibt, Ideologien, die längst für tot erklärt waren, wieder auf fruchtbaren Boden fallen könnten. Um Adorno zu bemühen: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“

 

Licht und Schatten der digitalen Zukunft

Doppelbuchbesprechung von Georg Schmidtgen und Jakob Banki

Zygmunt Bauman und David Lyon, Liquid Surveillance – A Conversation, London 2013.
Michel Serres, Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, Berlin 2013.

Die Soziologen Zygmunt Bauman und David Lyon und der Philosoph Michel Serres betonen in ihren neuen Büchern das gesellschaftsrevolutionäre Potential der neuen Kommunikationstechniken – jedoch aus Blickwinkeln, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Während Bauman und Lyon vor den ausgreifenden Überwachungs- und Disziplinierungsmöglichkeiten, die sie bereitstellen, warnen, betont Serres ihre umwälzende Bedeutung für unsere politischen, pädagogischen und gesellschaftlichen Institutionen.

Das Thema Überwachung ist allgegenwärtig: Wir werden in der U-Bahn gefilmt, machen Privates auf Facebook öffentlich, Minidrohnen werden bald so billig sein, dass Neugierige ihre Nachbarn ausspionieren können. All das ist nicht nur für die Politik eine Herausforderung, sondern auch für die Soziologie.

Die beiden Soziologen und renommierten Vertreter der kulturkritischen Zeitdiagnostik, Zygmunt Bauman und David Lyon, skizzieren erste Antworten auf diese Herausforderung in ihrem knapp 200 Seiten starken, über zwei Monate geführten E-Mail-Verkehr. Wenngleich das Gespräch zeitlich vor den Enthüllungen des Edward Snowden stattfand, macht es der NSA-Skandal dennoch zum Buch der Stunde. (Ähnlich erging es Ulrich Beck, dessen Standardwerk „Risikogesellschaft“ kurz vor der Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 auf den Markt kam).

Dreh- und Angelpunkt ihrer Konversation ist die Sorge um eine sich stetig ausweitende Überwachung: “Without a fixed container, but jolted by ‚security’ demands and tipped by technology companies’ insistent marketing, surveillance spills out all over.“ Anstelle eines simplifizierenden Lamentos auf die vermeintliche Übermacht des „Überwachungsstaats“ betonen Bauman und Lyon emphatisch die Komplizenschaft kommerzieller Internetunternehmen und deren Kunden in der Ausweitung der Überwachung.

Allgegenwärtige Überwachung ist für Bauman und Lyon weder Zu- oder Unfall, noch ist sie Resultat einer vermeintlich überbordenden Staatsgewalt. Überwachung ist das heute herrschende „Dispositiv“, wie es Bauman und Lyon im Vokabular ihres französischen Lehrmeisters Michel Foucault ausdrücken, was heißt: Überwachung ist die Norm unserer Lebenswelten, und das schon seit Anbeginn der Moderne.

Um die Argumentation der beiden Soziologen zu verstehen, lohnt es, Foucault zur Hand zu nehmen und sich dessen Deutung des Panoptikums als Sinnbild des modernen Ordnungssystems vor Augen zu führen. Das Panoptikum war von Jeremy Bentham als architektonisches Konzept für Gefängnisse und ähnliche Anstalten entworfen worden. Von einem zentralen Ort aus kann der Wachmann in die kreisförmig um ihn herum angesiedelten Zellen hineinsehen, ohne seinerseits von den Insassen sichtbar zu sein. Mithin wissen diese nicht, ob sie gerade überwacht werden. So sollten sich alle Insassen zu jeder Zeit unter Überwachungsdruck regelkonform verhalten, da sie jederzeit davon ausgehen müssten, beobachtet zu werden. In den Worten Foucaults: „Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.“

Bauman und Lyon überführen Foucault ins digitale Zeitalter: Weil mit dem Siegeszug des Kapitalismus – das erkannten schon Marx und Engels – „alles Ständische und Stehende verdampft“, ist die stabile Moderne
des Panoptikums gleichsam mitverdampft. Die Moderne ist in einen „flüssigen bzw. gasförmigen Aggregatszustand“ übergegangen, und mit ihr auch die Überwachung: sie wurde, wie erwähnt, „allgegenwärtig.“ Was Bauman und Lyon hierbei erschüttert ist nicht nur die fast lückenlose Überwachung (durch Videokameras, Smartphones, etc.), sondern deren öffentliche Perzeption: war das Foucaultsche Panoptikum noch Ort des Grauens, wird die gegenwärtige Überwachung, wenn nicht begrüßt, so doch zumindest als für die öffentliche Sicherheit notwendig anerkannt. Und der Schrecken des Panoptikums vor dem Eingeschlossensein hat sich in eine Angst vor dem Ausgeschlossensein verkehrt. Der Facebook-Nutzer sorgt sich nicht um den Verlust seiner Privatsphäre; Angst macht ihm vielmehr die Vorstellung, „nicht dazuzugehören.“

Das Versprechen der Cyberwelt, Mittel gegen die Flüchtigkeit, wachsende Mobilität, Dezentralisierung und Atomisierung unserer Zeit zu sein, deuten Bauman und Lyon als nötigende Zumutungen. Sie sind – gekoppelt mit dem freiwilligen Cyberexhibitionismus der Nutzer – grundlegende Bedingung für funktionierende Überwachungsmaßnahmen. Mit den Mitteln der „Verlockung und Verführung“ erreicht die „flüchtige Moderne“ so einen höheren Überwachungsgrad, als es Polizeigewalt und Zwang je vermochten.

So einleuchtend und verblüffend diese Beobachtung beim ersten Lesen auch erscheint, sie ist nicht ohne Schwierigkeiten, nicht zuletzt Bauman und Lyons Bewertung des Staates, dem sie im Kontext des vermeintlich politikfreien „space of flows“ der Digitalgesellschaft einen Bedeutungs- und Machtverlust attestieren. Doch hat nicht gerade der NSA-Skandal die ungebrochene Bedeutung und Macht des Staates als Akteur in der Digitalwelt gezeigt? Will man der allgegenwärtigen Überwachung Einhalt gebieten, so lehrt uns Edward Snowden, bleibt der Staat nach wie vor der geeignete Adressat, nicht (nur) Facebook oder Google, auch wenn die Datensammelwut beider Hand in Hand geht.

Gegen die besorgte Verurteilung sozialer Netzwerke als Instrumente der Überwachung setzt der Stanford- und Sorbonne-Philosoph Michel Serres in seinem Essay „Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation“ ihre befreiende und emanzipative Dimension. Vielleicht ganz im Sinne Hölderlins: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Im Original heißt sein kurzweiliges Büchlein „Petite Poucette“, was soviel heißt wie „Däumelinchen“. Damit bezeichnet Serres die heutige Teenager-Generation, die mit ihren Daumen über ihre Smartphones fliegt und unendliche Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten hat.

Die unvorstellbaren Speicher- und Übertragungsmöglichkeiten des Internets versetzen den heutigen Menschen in die Lage, alles vorhandene Wissen in Sekundenschnelle abzurufen, sie brauchen nicht mehr lernen, den eigenen Speicher füllen. Mit dem Internet sind ihr eigenes Gedächtnis und sein Training überflüssig geworden; sie haben ständigen Zugriff auf das globale Menschengedächtnis Internet. In diesem Zusammenhang spricht Serres von einer Externalisierung des Wissens: „Unser intelligenter Kopf ist aus unserem knochenbewehrten neuronalen Kopf herausgetreten. (…) Ein Gedächtnis, tausendmal leistungsfähiger als das unsere, eine von Millionen und Abermillionen Ikonen bevölkerte Einbildungskraft, ja einen Verstand – dienen doch zahllose Programme der Lösung ebenso vieler Probleme, die zu lösen wir von uns aus außerstande wären. Unser Kopf liegt vor uns, da, in der objektivierten Kognitionsbüchse.“

Dieser Schritt wirkt zurück in die physische Welt und wird laut Serres unsere hergebrachten Institutionen revolutionieren, in einem Ausmaß, das für uns noch nicht abzusehen und vorstellbar ist: „Bürokratie, Medien, Werbung, Technokratie, Unternehmen, Politik, Universitäten, Verwaltungen, bisweilen selbst die Wissenschaft – unter Einsatz der Inkompetenzvermutung üben große öffentliche und private Maschinen ihre gigantische Macht aus, indem sie sich an vermeintliche Dummköpfe wenden, die als Massenpublikum verunglimpft und von den Showkanälen verachtet werden.“ Das ist nun vorbei; diese Institutionen müssen sich mittelfristig auf eine Kompetenzvermutung einstellen und langfristig auflösen, weil ihre Wissensvorsprünge sich aufgelöst haben. Serres ruft das Ende der „Expertokratie“ aus. Die heutige Gesellschaft ist somit zwangsläufig mit der Aufgabe konfrontiert, sich darüber Gedanken zu machen, wie die Institutionen von morgen aussehen werden – wenn für so etwas wie „Institutonen“ überhaupt noch Bedarf besteht. In dieser Entwicklung sieht Serres eine „seltene historische Transformation“, die mit dem Neolithikum und der Renaissance vergleichbar ist.

Sie ist in ihrer Radikalität kaum zu überschätzen. Serres stellt sogar die Zukunft von Sprache überhaupt,
von Begriffen und Abstraktionen, in Frage. Abstraktionen sind ursprünglich nötig, weil wir nicht in der Lage sind, alle Informationen gleichzeitig zu verarbeiten, sie dienen der Komplexitätsreduktion. Doch auch das scheint in (ferner?) Zukunft nicht mehr notwendig zu sein: „Unsere Maschinen laufen mit solcher Geschwindigkeit, daß sie das Besondere unbegrenzt aufzählen und bei der Originalität innehalten können. (…) Die Suchmaschine kann, zuweilen, die Abstraktion ersetzen.“ Dies ist ein Gedanke, den wir heute noch gar nicht denken können, da unser Denken noch auf die Verwendung von Begriffen und Abstraktionen angewiesen ist.

Die Abstraktion wird nicht mehr nötig, aber immer wählbar sein. Das eröffnet, um auf den Datenschutz zurückzukommen, ungeahnte Möglichkeiten. Daten sind kein „Gegebenes“ mehr, sie werden selbst erzeugt. Das „In-dividuum“ tritt aus der alten analogen Welt in die neue digitale und wird zum „Dividuum“, das sich seine selektiven Persönlichkeiten selbst kreiert. Die Däumelinchen von heute und der Zukunft „codieren“ ihre Identität: „Codenamen, noms de guerre oder noms de plume, Kampf- oder Künstlernamen, Pseudonyme, einzigartig, aber doppelgestaltig: individuell und generisch. Diese Namen schlagen in der Tat eine Brücke zwischen Allgemeinem und Besonderem; zwiefältig, wenn man so will, stehen sie für das eine wie das andere.“

Serres’ kurzer und hellsichtiger Essay beschreibt, in notwendiger Raffung, mit dem Internet die Vollendung und Realisierung der kybernetischen Kommunikations- und Medientheorien, die in den 1960er Jahren entstanden. Wie Eingangs erwähnt, wird diese Entwicklung begrüßt und ihr befreiender und revolutionierender Charakter überzeugend und prägnant dargestellt. Es bleibt jedoch eine Ergänzung zu machen: Denkt man die von Serres beobachtete Entwicklung zu Ende, dann wirkt sie noch beängstigender als die von Bauman und Lyon entworfenen Überwachungsszenarien: Sie ist das Ende des Menschen als Subjekt, des Menschen als Menschen – und damit auch das Ende der Philosophie. Denn: interpretiert man „Philosophie“, so wie Platon es getan hat, als „Streben nach Weltweisheit“ und bedeutet die Digitalmoderne eine Abkopplung des Wissens vom Menschen, auf das er jedoch jederzeit zugreifen kann, bedeutet dies seine Redundanz und Perfektionierung zugleich. Das Weltwissen ist jederzeit aus dem Großgedächtnis Internet abrufbar für jedermann, es muss nicht gesucht werden, nicht danach gestrebt werden. Der Mensch, und das hat ihn zum Menschen gemacht, kann sich nicht mehr irren, er kann keine Fehler mehr machen, er muss nicht lernen, sich nicht „bilden“. Der Einzelmensch wird zur perfekten, jederzeit austauschbaren Hülle, die von der Weltkommunikation, die ohne ihn weiterläuft, entkoppelt ist. Das Einzige, was ihm von Serres noch zugestanden wird, ist die „erneuernde und lebendige Intuition“, welches Wissen relevant ist. Doch auch dieses Wissen, Relevanzen, wird von der Crowd durch Hits, Likes und Tweets vorgegeben. Von wem denn sonst?

Photo: paul bica (CC BY 2.0)

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