Generation 9/11 in Deutschland

Prof. Dr. Carsten G. Ullrich │ 01. Juni 2012



Obwohl behauptet wird, dass der 11. September 2001 die Welt verändert habe, wurde bislang kaum untersucht, welche bleibenden Eindrücke die Anschläge in den USA bei jungen Erwachsenen hinterlassen haben und welche politischen Gestaltungsansprüche und Interessen sie daraus ableiten: Gibt es eine „Generation 9/11“ in Deutschland, die sich in ihrem Denken und Handeln an dem Attentat auf das World Trade Center orientiert und sicherheits- wie außenpolitische Konsequenzen aus ihm zieht? Während dies für die USA bereits bejaht wird, stehen Untersuchungen in Deutschland noch aus.

9/11 als Wendepunkt

Von nahezu keinem Ereignis der näheren Vergangenheit kann wohl eine so starke weltpolitische Veränderung behauptet werden, wie es bei den Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York City am 11. September 2001 der Fall ist. Die hervorstechendste Veränderung ist dabei sicher die Umstellung des Ost-West-Konflikts auf eine „Allianz gegen den Terror“ bzw. gegen die „Achse des Bösen“. Überhaupt steht 9/11 für die Wiederkehr globaler Konfliktlinien und Bedrohungslagen nach dem Ende des Kalten Krieges Anfang der 1990er Jahre.

Was für die einen eine Wiederkehr ist, ist für die anderen das erste Mal. Für junge Erwachsene zeigte der 11. September zum ersten Mal eine globale Konfliktlinie und die Möglichkeit der kollektiven körperlichen Bedrohung auf. 9/11 vermittelte ihnen den ersten Eindruck von der Welt, von dem behauptet werden kann, dass es ein bleibender ist: Der 11. September ist ein Wendepunkt, der nicht nur die Wahrnehmung künftiger Erlebnisse beeinflusst, sondern auch die bisherigen, selbst oder von Älteren gemachten Erfahrungen entwertet und eine Art Wunde darstellt, die sich in gemeinsamen Symbolen, Metaphern, Geschichten und Streit- wie Konsenspunkten einer bestimmten Altersgruppe artikuliert. Kurzum: Der 11. September bringt eine neue historisch-politische Generation hervor: Die „Generation 9/11“.

Generation 9/11 in den USA

In den USA ist die „Generation 9/11“ bereits seit Längerem ein etablierter Begriff für die heute 30-40 Jährigen, mit dem sie sich auch selbst identifizieren. Abgesehen von schnellen medialen Zuschreibungen dieses Generationstitels an jeweils unterschiedliche Altersgruppen kurz nach dem Ereignis wurden die Wirkungen der Anschläge auf die Lebenswege und politischen Haltungen in den USA bereits auch empirisch untersucht. Hiernach markiert diese Altersgruppe einen Bruch mit der „Generation Vietnam“ und einen entsprechenden Generationswechsel. Während sich die älteren Jahrgänge durch Kriegsproteste und eine antimilitaristische Haltung kennzeichnete und sich junge US-AmerikanerInnen seit den 1970er Jahren bis 2001 beim Militärdienst zurückhielten, besitzt die Altersgruppe der 30-40-Jährigen eine sehr viel stärkere Loyalität gegenüber Militär-, Sicherheits- und Geheimdienst und eine sehr viel stärkere Bereitschaft zur Mitarbeit in der Army, den Marines, dem FBI und dem CIA. Ihre politischen Haltungen haben sich als solche überhaupt erst herausgebildet oder zumindest haben sich diese verstärkt – 9/11 hat zu einer Politisierung dieser Altersgruppe geführt. Dies betrifft v.a. die internationalen Beziehungen, die von „9/11ern“ als nunmehr wichtiger eingestuft werden.

Generation 9/11 – auch in Deutschland

In Deutschland könnte man sagen, dass hier die Betroffenheit weit weniger gegeben und die Herausbildung einer „Generation 9/11“ sehr unwahrscheinlich ist. Doch ist der 11. September ein transnationales Ereignis, der Terrorismus gilt als international; auch in Europa kam es zu Terroranschlägen durch Al-Qaida. Darüber hinaus ist insbesondere in Deutschland eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Geschehnis zu vermuten: Nicht nur hat sich Deutschland von Beginn an der Operation Enduring Freedom und der International Security Assistance Force zur Bekämpfung der Taliban in Afghanistan angeschlossen. Auch wurde der Anschlag von in Deutschland eingeschriebenen Studenten geplant, was die Auseinandersetzung mit „Schläfern“ und Tätertypen in altershomogenen Zusammenhängen, wie sie z.B. Universitäten darstellen, befördert hat.

Leider existieren zu der Frage, ob sich in Deutschland eine „Generation 9/11“ herausgebildet hat – wie überhaupt zur Frage nach den gesellschaftlichen Wirkungen von 9/11 – bisher noch keine Untersuchungen. Zwar liegen Hinweise aus Kunst und Literatur darauf vor, dass die heute 30- bis 40-Jährigen 9/11 thematisieren - und dies als Zäsur und Wunde. Zudem haben die Forschungen zu Antiamerikanismus und Antisemitismus seit dem 11. September in Deutschland zugenommen. Auch wenn diese kaum nach Altersgruppen differenzieren, spricht insgesamt viel dafür, dass sich auch in Deutschland eine altersspezifische Verarbeitung der Anschläge nachweisen lässt. Dabei ist davon auszugehen, dass sich die „Generation 9/11“ in Deutschland vor allem um die Punkte Antiamerikanismus, Antisemitismus, Sicherheits- und Außenpolitik herum entfaltet.

Folgerungen für Wissenschaft, Medien und Politik

Die Bedeutung der „9/11“-Ereignisse als historische Zäsur lässt sich nur anhand der Entstehung einer neuen Generation und eines neuen Generationsbewusstseins aufzeigen. Dies setzt aber voraus, das Ereignis, und dies gilt für die Wissenschaft ebenso wie für die Medien und die Politik, als Ankerpunkt für Konfliktlinien nicht zu unterschätzen – zumal eine Generation quer zu den gesellschaftlichen Systemen und Teilbereichen liegt. Die „Generation 9/11“ ist daher nicht nur als Thema, Zielgruppe oder Kritikerin von Wissenschaft, Politik, Medien oder auch Streit- und Sicherheitskräften zu begreifen. Sie selbst ist in den jeweiligen Bereichen vertreten und „schreibt“ auf diese Weise Geschichte. Und wenn es stimmt, dass es bei der Herausbildung politischer Generationen um einen „Punkt der Unruhe“ geht, um die Konditionierung und den Widerstreit bestimmter „Problemwahrnehmungen und Erregungskreise“ (Heinz Bude), dann trifft dies ohne Zweifel auf 9/11 zu: Der 11. September ist, soviel kann mit Blick auf unsere bisherige Forschung und die Resonanz auf diese definitiv gesagt werden, (auch heute noch!) ein hoch aufgeladenes, erregendes Politikum.

Online-Studie

Die Klärung der Frage, ob und in welchem Sinne auch in Deutschland von einer „Generation 9/11“ gesprochen werden kann, erfordert jedoch gezieltere Forschung. Um zu untersuchen, wie die Anschläge in Deutschland erlebt, interpretiert und kommuniziert werden, haben wir an der Universität Duisburg-Essen ein Online-Diskussionsforum initiiert, das sich insbesondere an die Altersgruppe der 30-40 Jährigen richtet und diese einlädt, sich unter aktiv beteiligen.

Prof. Dr. Carsten G. Ullrich lehrt Soziologie an der Universität Duisburg-Essen

1 Kommentare

  1. Stephan Huebner Says:

    „zumal eine Generation quer zu den gesellschaftlichen Systemen und Teilbereichen liegt“

    Lustig, dass genau diese Generation - die so genannten Verschwörungstheoretiker - bewusst und gezielt bei der angeblichen Diskussion unter dem genannten Link ausgeklammert bzw. mundtot gemacht wurde.

    Wie man von gerade einmal 200 Teilnehmern (die noch dazu nach dem oben genannten Kriterium gefiltert wurden) auf eine Generation 9/11 beziehungsweise deren Eigenheiten, Motivationen oder was auch immer schließen kann bleibt für mich fraglich. Wie andernorts bzw. von kompetenteren Personen ausführlich diskutiert, ist diese „Diskussion“ wohl gescheitert bzw. nicht das Papier wert, auf dem sie gedruckt wurde oder wird. Schade ums Geld, könnte man sagen.






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