NATO-Megagipfel in Chicago: Zum westlichen Bündnis gibt es keine Alternative

Dr. Stefanie Babst │ 25. Mai 2012



Multilateralismus ist stets ein mühsames Geschäft, das oft mit zu hohen Erwartungen einher geht. Das gilt auch für die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik.  Zum westlichen Bündnis gibt es jedoch keine Alternative – weder für Europäer und Amerikaner. Das hat das Gipfeltreffen in Chicago einmal mehr gezeigt.

CHICAGO – EIN MEGAGIPFEL

Nun ist auch dieses politische Grossereignis wieder Vergangenheit. Der NATO-Gipfel in Chicago ging vor wenigen Tagen zu Ende und wurde erwartungsgemäss von allen Beteiligten als erfolgreich bewertet.

Äusserlich betrachtet war Chicago sicherlich ein Megagipfel: mit Staatsoberhäuptern, Aussen- und Verteidigungsministern sowie ihren Entouragen aus 60 Staaten, Spitzendiplomaten zahlreicher internationaler Organisationen, einer gewaltigen Anzahl amerikanischer Sicherheitskräfte, einigen tausenden Demonstranten, noch einmal so vielen Medienvertretern aus aller Welt und der üblichen Schar junger Transatlantiker, die auf einer parallel zum Gipfel stattfindenen Jugendkonferenz über die Zukunft des westlichen Bündnisses diskutierten. Und all dies in der Stadt, die mit zu Präsident Obamas wichtigsten Wahlkampfverbündeten zählt.

Die mediale Berichterstattung vor und während des 25. Gipfeltreffens in der Geschichte des Bündnisses trug dazu bei, die politische Erwartungshaltung hoch zu schrauben. NATO-kundige und weniger kundige Kommentatoren auf beiden Seiten des Atlantiks offerierten ihre Meinungen über die drei zentralen Gipfelthemen: die Strategie zur Beendigung der ISAF-Operation im Jahr 2014 und die Unterstützung, die die NATO auch danach weiter zugunsten Afghanistans leisten will, die Anfangsbefähigung einer Raketenabwehr, mit deren Hilfe sich die Allianz gegen ballistische Angriffe schützen will, und die Absicht der Verbündeten, ihre militärischen Fähigkeiten stärker gemeinsam zu planen, zu beschaffen und zu nutzen (Smart Defence). Die Frage nach der Relevanz der NATO in den kommenden Jahrzehnten wurde in nahezu allen ernsthaften Analysen gestellt – jedoch selten stichhaltig beantwortet.

ERFOLG ODER MISSERFOLG?

Was macht letztendlich einen Gipfel erfolgreich oder, diplomatisch formuliert, weniger erfolgreich? Diese Frage ist mit ein paar wenigen Sätzen natürlich nicht seriös zu beantworten.

Das Treffen in Chicago war nunmehr der siebente Gipfel, den ich aus einer Binnenperspektive mitvorbereiten und verfolgen konnte. Meiner Einschätzung nach muss man ein politisches Treffen dieser Grössenordnung anhand einer ganzen Reihe von Kriterien bewerten, die zusammen genommen eine umfangreiche Analyse bilden würden. Ich will an dieser Stelle nur einige zentralen Fragen skizzieren, die andere vielleicht näher betrachten und beantworten mögen.

28 NATIONALE ERWARTUNGEN

Da ist zunächst einmal die politische Erwartungshaltung jedes einzelnen Verbündeten. Welche nationalen Partikularinteressen wollte Litauen mit Hilfe des Gipfeltreffens durchsetzen und welche Punkte konnte es de facto realisieren? Welche Interessen verfolgte die Türkei? Und welche Norwegen? Mit welchen wichtigen Verbündeten und Partnern konnte Bulgarien am Randes des Gipfels bilaterale Gespräche führen? Konnte für den albanischen Präsidenten ein ‚bilat mit Obama“ arrangiert werden oder nicht? Wie politisch günstig für die Regierung fiel die nationale Berichterstattung in London, Paris und Kopenhagen aus?

Die Antworten auf diese und ähnliche Fragen fallen logischerweise bei jedem Verbündeten sehr individuell aus. Die Tatsache, dass beispielsweise der Rolle der NATO bei der Energiesicherheit ein eigener Paragraph im Gipfelkommuniqué gewidmet wurde, ist aus Sicht des rumänischen Präsidenten Bascu sicherlich ein Erfolg. Auch der polnische Regierungschef Komorowski wird dies zu Hause als Erfolg verbuchen können. Deutschland hingegen übersieht dieses Gipfelthema geflissentlich, da es lieber überhaupt keine Referenz zur Energiesicherheit gesehen hätte.

Ein Blick in das inhaltlich breitgefasste Kommuniqué zeigt, dass Chicago wiederum ein Gipfel war, in dem sich alle Verbündeten mit ihren speziellen politischen und militärischen Themen wiederfinden konnten. Für den aussenstehenden Betrachter mag ein Gipfelkommuniqué ein eher schwammig formuliertes Dokument sein; für die Kohäsion im Bündnis ist es hingegen wichtiger politischer „Klebestoff“.

KOMPROMISSE UND ALLEINGÄNGE

Doch wie schwierig waren die Verhandlungen, die den Weg nach Chicago ebneten? Wie viel ernsthafte Kompromissbereitschaft haben die Verbündeten gezeigt? In welchen Bereichen ist der Kompromiss so brüchig, dass er unmittelbar nach dem Gipfeltreffen wieder aufbrechen könnte? Antworten auf diese Fragen können ebenfalls zur Bewertung des Chicago-Gipfels beitragen.

Wie so häufig in der Vergangenheit haben die Verbündeten bis zur sprichwörtlich letzten Minute um Formulierungen und Nuancen bei den Gipfeldokumenten gerungen und sich danach um Einheit nach aussen bemüht. So ganz ist dies in Chicago nicht gelungen. Die Entscheidung des neuen französischen Präsidenten Hollande, seine Kampftruppen schon in diesem Jahr aus Afghanistan abzuziehen, traf bei vielen seiner Verbündeten auf Unmut. Darüber hinaus riss der klassiche Gegensatz über die Frage wieder auf, in welche Richtung sich die NATO in Zukunft schwerpunktmässig bewegen sollte: Die grosse Mehrheit der alten und neuen ‚Kontinentaleuropäer’ unterstrich erneut die kollektive Verteidigung (Art 5) als Kernausfgabe, während der britische Regierungschef Cameron betonte, dass die NATO die Zeit der ‚big tanks and guns’ endgültig ruhen lassen und sich militärisch und politisch auf Operationen à la Libyien vorbereiten sollte. Über die möglichen Konsequenzen der strategischen Neuausrichtung Amerikas in den asiatisch-pazifischen Raum wurde gar nicht erst diskutiert.

Notdürftig verkleistert wurden auch strittige Themen wie beispielsweise die Frage, gegen wen genau der neue Raketenabwehrschirm eingesetzt werden soll. Allein die namentliche Nennung des Iran löst bei der Türkei grösste Abwehrreaktionen aus. Andere Verbündete haben damit keine Probleme. Da sich die Türkei aber bis zum Schluss weigerte, über konkrete Bedrohungen zu reden, die die Logik einer ballistischen Raketenabwehr untermauern könnten, findet sich in der entsprechenden Gipfelverlautbarung überhaupt keine Referenz zu einem bestimmten Staat oder mehrern Staaten.

CHICAGO – EINE STRATEGIEDEBATTE?

Hat das Treffen in Chicago neue strategische Weichen gestellt und haben die NATO-Chefs ihre Positionen zu den aktuellen Krisenherden abgestimmt?

Eine ehrliche Antwort darauf müsste lauten: nicht wirklich. In Chicago wurde von allen Regierungschefs, quasi gebetsmühlenartig, die veränderte Bedrohungslage zitiert und die unersetzliche Rolle der NATO zur Gefahrenabwehr und Verteidigung beschworen. Eine Diskussion über die wichtigen strategischen Fragen fand jedoch kaum statt. NATO-Generalsekretär Rasmussen versuchte immerhin die Gipfelteilnehmer dahingehend zu motivieren. In seinen einführenden Worten mahnte er seine Kollegen, bei aller Fixierung auf die Finanzkrise und Sparzwänge nicht den Blick für den geopolitischen Veränderungen zu verlieren. Wenn die NATO ihre militärische Schlagkraft weiter schleichend einbüssen würde, riskierte das Bündnis im Jahr 2020 in die Bedeutungslosigkeit zu versinken.

Leider blieb Rasmussens Versuch, eine strategische Diskussion zu initiieren, ohne Reaktion. Fast ausnahmslos lasen die Regierungschefs vorbereitete Redetexte zu den Themen Smart Defence, Missile Defence, Defence and Deterrence Posture Review und Afghanistan vor. Das lediglich vor anderthalb Jahren verabschiedete neue Strategische Konzept fand kaum Erwähnung. Über die Lage im Nahen Osten tauschten sich nur die Aussenminister aus, und dies unverbindlich. Auf eine eigenständige Erklärung zu den Entwicklungen in der arabischen Welt und Nordafrika konnte man sich ohnehin nicht einigen. Auch die separate Diskussion mit den Beitrittsaspiranten beschränkte sich auf den Austausch bekannter diplomatischer Formeln. Und schliesslich: das Treffen mit den besonders ausgewählten 13 Partners (partners across the globe) geriet aus Zeitmangel sehr kurz und konnte allein deshalb keine neuen Akzente für die Zukunft der Partnerschaften setzen. So gesehen war das Interesse der Verbündeten, Chicago für einen Austausch zu den politisch-strategischen Fragen zu nutzen, eher gering.

UMSETZUNG DER CHICAGO BESCHLÜSSE

Wie gross ist nun die Bereitschaft, die Beschlüsse von Chicago umzusetzen? Dies ist stets die alles entscheidende Frage, an der sich ermessen lässt, ob die Erklärungen von Chicago über den Rahmen politischer Rethorik hinausgehen werden.

Für eine endgültige Bewertung ist es nur wenige Tage nach dem Gipfel natürlich noch zu viel zu früh. Der Nord-Atlantikrat wird in seinem traditonellen „Summit wash-up“ die verschiedenen Gipfel-Auftragsarbeiten an die Fachkommittees weiterleiten: an der Umsetzung der multinationalen Smart Defence-Projekte wird weiter zu arbeiten sein; ebenso an der weiteren Entwicklung des Raketenabwehrschirms. Zu Smart Defence wurden in Chicago bereits leise Zwischentöne laut. Kanzlerin Merkel unterstrich, dass auch grössere multinationale Rüstungsprojekte und deren operativer Einsatz weiter unter parlamentarischem Vorbehalt stehen würden. Der türkische Präsident Gül meinte gar, dass Smart Defence ‚only an interim tool and not an end in itself“ wäre, und sein französischer Kollege betonte vor allem die Notwendigkeit, den europäischen Smart Defence-Pfeiler in der NATO zu stärken. Konkurrenz zwischen den nationalen rüstungsindustriellen Interessen der grossen Verbündeten wird sich nicht vermeiden lassen; für viele der kleineren Bündnismitglieder bleibt Smart Defence jedoch ein kostengünstiger und damit interessanter Weg, ihre militärischen Fähigkeiten besser miteinander abzustimmen und gemeinsam zu entwickeln.

Abzuwarten bleibt ebenfalls, wie sich die weitere Umsetzung der Übergangstrategie in Afghanistan darstellt. Auch wenn die Verbündeten ihr ‚In together – Out together’ – Versprechen noch einmal in Chicago erneuert haben, kann man weitere voreilige Rückzüge einzelner ISAF-Partner nicht gänzlich auszuschliessen. Schliesslich wird man sich auch der Frage widmen müssen, wie man der strategischen Partnerschaft mit Russland neuen Schwung geben kann. Kanzlerin Merkel kündigte in Chicago an, das Deutschland sich insbesondere zum Thema der Raketenabwehr um Moskau bemühen wolle.

Wie immer nach einem Gipfeltreffen wird auch nach Chicago die Kunst darin bestehen, das politische Moment für die jeweiligen Beschlüsse aufrechtzuerhalten. Ansonsten droht die Gefahr, dass die politische Tagesordnung in Brüssel und in den Hauptstädten der NATO-Mitglieder erneut Oberhand gewinnt und Chicago inhaltlich abgehakt wird. Ich bin sicher, dass sich Deutschland nachhaltig dafür einsetzt, dass dies nicht geschieht.

Dr. Stefanie Babst ist Stellvertretende Beigeordnete NATO-Generalsekretärin für Public Diplomacy

Quelle Autorenbild: Dr. Stefanie Babst.

Der Artikel spiegelt ausschliesslich die persönliche Meinung der Verfasserin und nicht die offizielle Position der NATO wider.

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