Deutsche Interessen offen diskutieren!

Redaktion │ 04. Mai 2012



Von Tim Maxian Rusche, Florent Duplouy, Anna von Oettingen und Florian Kuhn

Was sollte Richtschnur für Entscheidungen deutscher Außenpolitik sein – Werte oder Interessen? Nach der Rhetorik deutscher Außenminister zu urteilen, scheint die Antwort eindeutig – Werte. Interessen spielen in der öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle. So blieb eine Diskussion etwa zum deutschen Interesse an stabilen Verhältnissen auf dem Balkan, im Kongo oder in Afghanistan aus. Auch die Reaktion auf das zu seinem Rücktritt führende Interview des ehemaligen Bundespräsidenten Köhler, der deutsche Militäreinsätze mit deutschen Interessen rechtfertigte, vermittelt den Eindruck, dass deutsche Außenpolitik werte- und nicht interessengeleitet sein soll.

In einem Streitpapier, das die Zeitschrift Welttrends in Nr. 71/2010 veröffentlichte, plädierten wir dafür, Deutschland solle seine außenpolitischen Entscheidungen auch aufgrund von Interessen treffen. Dabei ersetzen Interessen nicht Werte. Vielmehr halten wir Werte, die wir für Deutschland zu ermitteln versuchten, für nicht konkret genug, um als Entscheidungsgrundlage für den Einzelfall zu dienen. Anders als einsam getroffene Werteinterpretationen weniger Entscheidungsträger könnte die Identifizierung deutscher Interessen – stets rückgebunden an das Wertegerüst – als Grundlage für eine sachliche, öffentlich debattierte und nachvollziehbare Einzelfallentscheidung dienen.

Dafür haben wir eine Matrix entwickelt, welche am Beispiel der Auslandseinsätze der Bundeswehr verschiedene Kriterien, Qualifizierungen (als Kosten beziehungsweise Nutzen) und Gewichtungen abbildet, aus denen sich das deutsche Gesamtinteresse ableiten ließe. Die Benutzung dieser Matrix erleichtert die Debatte über außenpolitische Fragen, die wir uns wünschen.

Bis zur Wiedervereinigung bestand ein breiter Konsens über die (west)deutschen Interessen, der sich in den Stichworten „Wiedererlangung der Souveränität“ und „Wiedervereinigung“ zusammenfassen lässt. Mit der Verwirklichung dieser Interessen durch den Abschluss des 2+4-Vertrages war die deutsche Außenpolitik ihres Interessenkompasses beraubt. Zugleich entstanden neue Erwartungen an Deutschland, zunächst hinsichtlich seines militärischen Engagements, neuerdings bezüglich seiner wirtschaftlichen Führungsrolle in Europa.

Die deutsche politische Elite hat bis zum heutigen Tag keine Antwort auf diese Herausforderung gefunden. Vielmehr dominiert der Reflex, eine Wertedebatte zu führen, welche die tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen im Einzelfall nur kaschiert. Eine sachliche Auseinandersetzung über Interessen findet nur selten statt; das Wort „Interesse“ bleibt verpönt; so wird die Chance vertan, die wiedergefundene Souveränität gerade auch im europäischen Kontext verantwortungsvoll zu gestalten.

Wir plädieren für eine neue außenpolitische Kultur in Deutschland, die sich offen mit der Frage der deutschen Interessen befasst. Dabei meinen wir, dass eine Wechselbeziehung zwischen Werten und Interessen besteht: Interessen müssen stets an Werte rückgebunden sein, und ihre Formulierung und Debatte es erst ermöglicht, unseren Wertekonsens mit Leben und Inhalt zu füllen.

Dies würde nicht nur die innenpolitische Legitimation außenpolitischen Handelns erhöhen. Es würde zugleich einem oft geäußerten Wunsch vieler Partner entsprechen, wonach Deutschland in europäischen und internationalen Verhandlungen effektiver und verlässlicher aufträte, wenn es seine Interessen klar definierte.

Einen Startschuss dafür könnte eine von allen politischen Parteien (oder ihren Stiftungen) getragene Kommission für deutsche Interessen sein.

Das Streitpapier und die nachfolgende Debatte in Welttrends sind als Sammelband in der Reihe Welttrends Papiere 20 veröffentlicht. Sie können kostenfrei hier heruntergeladen werden.

Der Tönissteiner Kreis ist ein Gesprächskreis von Führungskräften aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, die vor dem 35. Lebensjahr mindestens je ein Jahr Auslandserfahrung in zwei unterschiedlichen Sprachräumen erworben haben. Als überparteiliches und interdisziplinäres Netzwerk will der Kreis Impulse für eine verstärkte internationale Öffnung und Kooperation Deutschlands geben. Jüngere Mitglieder des Kreises treffen sich in losen Abständen als „Young Tönisstein“, um aktuelle Fragen der Außen-, Europa- und Sicherheitspolitik zu diskutieren.

Der vorliegende Beitrag ist in diesem Zusammenhang entstanden. Alle darin geäußerten Ansichten reflektieren die persönliche Meinung der Verfasser/innen. Sie binden in keiner Weise den Tönissteiner Kreis oder die Arbeitgeber der Verfasser/innen.

 

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