Deutsche Doppelstrategie?

Dr. Ulrike Guerot │ 21. März 2012



Wieder einmal scheint Deutschland zu groß für Europa und zu klein für die Welt. Die neue Deutsche Frage lautet: ist Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts fähig und bereit, sich weiter für eine vertiefte europäische Integration zu engagieren oder strebt es danach, ein selbständiger Akteur auf der internationalen Bühne zu werden? Eine klare Antwort gibt es bisher nicht. Drei Entwicklungen sind jedoch zu beobachten:

Erstens verhandelt Deutschland seine Rolle in Europa neu. Die deutsche Dominanz in der EU beruht in erster Linie auf einem deutlichen ökonomischen Machtzuwachs in Europa. In dieser Debatte wird immer lauter ausgesprochen, dass Europa nicht Deutschlands einzige Option sei.

Zweitens verhandelt Deutschland sein Verhältnis zwischen Ost und West bzw. zwischen Europa und der aufstrebenden BRIC-Welt neu. Dadurch wird Deutschlands früher eindeutiges außenpolitische Paradigma – transatlantische Beziehungen und europäische Integration als zwei Seiten derselben Medaille – untergraben: Symbolisch dafür war, egal ob vielleicht nur „handwerklicher Fehler“, Deutschlands Enthaltung im UN-Sicherheitsrat zu Resolution 1973 zu Libyen an der Seite von Russland und China, sowie seine Nichtbeteiligung im Libyen Einsatz. Deutsche Interessen, vor allem seine wirtschaftlichen, scheinen sich neuerdings vom EU-Binnenmarkt weg nach Osten zu verschieben, wobei der Osten hier über Moskau nach Peking hinausreicht. Noch untermauern die Handelszahlen dies indes nicht: Deutschland exportiert in die Niederlande oder nach Österreich je ungefähr so viel wie nach China. Allerdings ist die positive Dynamik der Handelskurven eher bei den BRIC-Staaten. Doch historisch bzw. politisch betrachtet ist der deutsche „drive“ nach Osten nichts Neues. Deutschlands Weg in den Westen war lang und im 20. Jahrhundert ist Deutschland dort endlich angekommen. Indes, wer den Lauf der Geschichte betrachtet, und nicht nur die in der kollektiven Erinnerung wirkungsmächtigen Referenzjahre von 1949 bis 1989, kann leicht sehen, dass Deutschland sich im Osten immer wohl gefühlt hat. Insofern mag man es auch im Sinne von Ferdinand Braudel und seiner Schule der Anales als große historische Schwerkraft bezeichnen, dass es derzeit scheint, als würde sich Deutschland aus der doppelten Umklammerung von EU und NATO langsam wieder lösen.

Drittens tendiert Deutschland momentan dazu, Außenpolitik gleichsam durch Handelspolitik zu subsituieren und noch ist das normative oder strategische  Konzept, im Rahmen dessen dies passiert, nicht klar. Diese Entwicklung fördert die Wahrnehmung, dass Deutschland sich zu einer „merkantilen Wirtschaftsmacht“ entwickelt. Der Begriff von Deutschland als „geo-ökonomischer Macht“ macht die Runde in strategischen Zirkeln: Deutschland als „große Schweiz“, als Wirtschaftsmacht, aber politischer Zwerg, was auch seiner grundpazifistischen Befindlichkeit als selbsternannter Zivilmacht entspricht, aber auf der Annahme einer gefahrenlosen Welt beruht. Das Problem dieser Entwicklung ist, dass solch eine  handelspolitisch dominierte Außenpolitik sich notwendigerweise einem Carl-Schmitt’chen Freund-Feind-Schema entzieht, wobei letzteres immer auf einem normativen Konzept beruhte: der frühere „Westen“, zu dem Deutschland gehörte, war in der Lage, strategische Interessen mit handelspolitischen Interessen zu verknüpfen bzw. hatte die Maxime, dass die befreundeten Staaten auch die größten Handelspartner sind und mit Feinden nicht gehandelt wird bzw. man nicht von ihnen abhängig war. Das hat sich geändert. Die strategisch-militärischen Ambitionen Chinas sind daher kaum Thema, wenn es um den deutschen Export-Boom nach China geht: Deutschland stellt 45% der EU-Exporte nach China.

Das Ergebnis dieser drei Entwicklungen ist momentan eine Ambivalenz deutscher Außenpolitik, die im Ausland für Unverständnis, Nervosität und Spannungen sorgt. Wie kann der handelspolitische Riese gezügelt werden? Die europäischen Nachbarn beobachten den deutschen weltpolitischen Alleingang mit Sorge. Deutschland scheint derzeit eine Art Doppelstrategie zu verfolgen, die da lautet, das eine – den  Aufbruch in die Welt – zu tun, aber das andere – Europa – nicht zu lassen. Wenn dies klug gemacht würde, böte es für Deutschland vielleicht sogar die Chance, außenpolitisch gleichsam mehrere Standbeine zu haben. Die Frage ist, ob und wie lange so etwas gut gehen kann. Das Risiko ist, dass Deutschland die EU nicht mehr als sein Kerninteresse versteht (und auch immer weniger Bereitschaft besteht, den unvermeidlichen Preis für „mehr Europa“ zu bezahlen), die hingehaltenen europäischen Partnerstaaten aber gegen ein zunehmend deutsches Europa aufbegehren. Dadurch könnten die nächsten Integrationsschritte nicht gelingen, die aber notwendig sind, um ein augenblicklich in vielerlei Hinsicht suboptimales europäisches System zu stabilisieren – und zwar vor allem im deutschen Interesse. In einem solchen Szenario könnte Europa Deutschlandentgleiten und Deutschland mithin normativ gesehen bald nicht nur alleine dastehen, sondern sich gleichsam in „schlechter Gesellschaft“ befinden und feststellen, dass die BRIC-Welt nicht die seine ist. Daher lautet die eigentliche Frage: ist Deutschland bereit sich fest in einem neuartig integrierten Europa zu verankern, transnationale Demokratie nach innen und ein Europa mit einer einheitlichen Stimme nach außen resolut zu befördern?

Wenn der große Wurf eines Europas, das sich als verantwortungs- aber auch machtbewusster Akteur auf der internationalen Bühne etabliert, gelingen soll, dann ist ein neues Bekenntnis zu Europa notwendig, das von Deutschland ausgehen muss. Für eine „europäische Verantwortungsmacht“ müssten vergemeinschaftete Konzepte von Energie-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik energisch zusammen geführt werden: Vollendung des Energie-Binnenmarktes und eines europäischen Stromverbundnetzes; sicherheitspolitisch eine Zusammenführung der militärischen Fähigkeiten Europas und mit Blick auf Euroland fiskalischer Föderalismus inklusive seiner politischen, solidarischen und sozialen Komponenten. So kann das strategische Potential Europas gesteigert werden – und eine europäische Stimme würde in der Welt mehr zu sagen haben als eine deutsche.

Hauptbestreben der deutschen Außenpolitik im 21. Jahrhundert sollte es daher sein, von einer einst fremdbestimmten zu einer selbstbestimmten Westbindung zu gelangen, sowie seine wirtschaftliche Macht in der EU einzubringen und auf diese Weise die EU zu einem machtvollen, normativen Akteur „moderner Weltinnenpolitik“ zu machen. Voraussetzung dafür ist, dass Deutschland es mit Europa ernst meint und die europäische Führungsrolle annimmt, die ihm gerade von überall – man denke an die Rede des polnischen Außenministers Radek Sikorski in Berlin im November 2011 – angeboten wird!

Ulrike Guérot ist Leiterin des Berliner Büros des European Council on Foreign Relations.

 

1 Kommentare

  1. Gerd-Armin Loh Says:

    Diese Aussagen beruhen auf einer gravierenden Fehleinschätzung der Machtverhältnisse in den Wirtschaftsbestimmenden Unternehmen, die in Deutschland angesiedelt sind. Wirtschaftsmacht in Deutschland ist längst internationalisiert und führt ein ergebnisbestimmtes Eigenleben. Dem hat die Politik zu folgen,das heißt , Politik ist Mittel zum Zweck des expansiven Überlebens. Das kann man philosophisch verpacken, wie die Autorin es tat, anders wird es damit nicht.
    Der casus knaxus ist die wirtschaftliche Infrastruktur in Europa gesamt, die auch von der Aufnahmefähigkeit des Marktes bestimmt wird.
    Ein typisch negatives Beispiel ist der Weinmarkt. Alle Länder produzieren im Überfluß, Preis ist am Boden, Menschen können von ihrer Hände Arbeit nicht mehr leben. Reguliert wird zum Schaden der Kaufkraft, aber nicht zum Schaden des Missmanagemnentes.
    MfG
    Gerd-Armin Loh






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