Warum der Westen nicht in Syrien interveniert

Felix Seidler │ 10. November 2011



Momentan fragen sich manche Zeitgenossen, warum der Westen nicht militärisch in Syrien interveniert. Wenn in Libyen interveniert wurde, warum dann nicht in Syrien? Beide Länder sind jedoch nicht vergleichbar. Die Gründe dafür reichen von der anderen Qualität der syrischen Luftabwehr über den UN-Sicherheitsrat bis hin zu einem möglichen regionalen Flächenbrand.

Ein anderes Kaliber
Vor vier Jahren gelang es den Israelis vor ihrem Angriff auf Syriens Atomreaktor die Luftabwehr des Landes per Cyber-Attacke einfach abzuschalten. Da die syrische Luftabwehr auf russischen Systemen basiert, beschwerte sich Damaskus direkt in Moskau über die Qualität der russischen Produkte. Die Russen, selbst schockiert von der Angreifbarkeit ihrer Waffen schickten umgehend Teams nach Damaskus, um den Syrern zu helfen (Vgl. Clarke/Knake 2011: 22f.). Danach dürfte sich die Qualität der syrischen Luftabwehr deutlich verbessert haben, zumal Russland Syrien 2010 noch mit neuen Luftabwehrsystemen belieferte (Vgl. IISS 2011: 299).


Alleine an der enge Kooperation mit Russland wird deutlich, die syrische Luftabwehr ist qualitativ und quantitativ ein vollkommen anderes Kaliber als die lybische. Man bedenke darüber hinaus, dass diese auch auf den Gegner auf Israel eingestellt ist. Luftangriffe auf Syrien wären damit zwangsläufig deutlich intensiver als gegen Libyen, wobei die USA, rein von den Fähigkeiten her gedacht, zweifelsfrei mit der libyschen Luftabwehr fertig würden. Das Risiko eigener Verluste wäre dabei jedoch auch deutlich höher als in Libyen. Heißt, die Qualität des potentiellen Gegners ist ein Grund, warum innerhalb der westlichen „Sicherheits-Community“ nicht mal ernsthaft über die Möglichkeit einer Militärintervention diskutiert wird.

Zum Vergleich noch ein paar Zahlen. Während die libysche Luftwaffe vor dem Krieg 18.000 Mann stark war, sind Syriens Luftwaffe und Luftabwehr zusammen 70.000 Mann stark. Die Masse der ohnehin veralteten MIGs und Mirage Kampfjets der libyschen Luftwaffe (394 Maschinen) war zu Beginn des Krieges gar nicht einsatzfähig. In Syrien (555 Maschinen) sieht dies anders aus, sind die Maschinen deutlich moderner und tatsächlich kampftauglich (Alle Zahlen vgl. IISS 2011: Libyen 320, Syrien 330).

Nebenbei erwiese sich ein reiner Lufteinsatz dadurch als sinnlos, dass es im Gegensatz zu Libyen am Boden keine zu unterstützende Rebellenarmee gibt.

Landgrenze mit der NATO
Syrien und der NATO-Mitgliedsstaat Türkei teilen sich eine über 800km lange Landgrenze. Da steht die Frage im Raum, ob syrische Reaktionen auf westliche Luftangriffe gegen die Türkei den Bündnisfall auslösen könnten? Schließlich wird laut NATO-Vertrag ein bewaffneter Angriff gegen einen als Angriff gegen alle angesehen. Alleine die Diskussionen darüber würden einen Einsatz in der NATO kaum durchsetzbar machen. In der NATO gilt das Konsensprinzip, heißt es bedürfte der Zustimmung aller 28-Mitglieder was, wie man an den Diskussionen über Libyen hier unrealistisch ist. Ohne die Türkei ginge so ein Einsatz weder politisch noch militärisch. Bei dieser Ausgangslage ist es aber unwahrscheinlich, dass Erdogan einem Krieg gegen ein muslimisches Land zustimmt, mit dem er eine Grenze teilt. Die NATO ist damit aus dem Spiel und die Komplexität der Bündnispolitik ein weiterer Grund, warum eine Intervention nicht auf der Agenda steht.

Kein UN-Mandat
Ein UN-Mandat würde es für eine Militärintervention nicht geben, da Russland und China eine solche Resolution mit ihrem Veto blockieren würden. Bei einer westlichen Intervention ohne UN-Mandat auf Basis der Responsibility to Protect hätte nach dem Präzedenzfall des Kosovo-Krieges die Erosion der Stellung des Sicherheitsrates zur Folge. Dem Interventionismus wäre dann Tür und Tor geöffnet. Die Frage ist außerdem, wie die Russen auf eine solche Intervention reagieren würden. In Syrien befindet sich die einzige Militärbasis Russlands außerhalb des Gebietes der ehemaligen UdSSR. Natürlich gibt es keinen Krieg zwischen der NATO und Russland, aber Moskau wird sich eine Antwort überlegen.

Israel ist um die Ecke
Bei einem Angriff des Westens wäre es nicht auszuschließen, dass ein in die enge getriebenes Syrien mittels seiner Scud-Raketen Vergeltungsschläge gegen Israel führt. Außerdem würden die Luftschläge zweifelsohne Vergeltungsaktionen von Hamas, Hisbollah, Islamischem Dschihad und anderen Terrorgruppen gegen Israel provozieren. Da Israel zurückschlagen würde, wäre die Folge ein regionaler Flächenbrand im größten Pulverfass der gegenwärtigen internationalen Politik. Diesen Flächenbrand will aber niemand, denn die Folgen wären unkalkulierbar.

Was macht Iran?
Teheran wird nicht tatenlos zusehen, wie der Westen seinen engsten Alliierten kaputt bombt. Der Iran wird reagieren. Entweder direkt im Persischen Golf oder indirekt über die Revolutionären Garden und Terrorzellen im Ausland. Außerdem könnte Teheran dem Westen das Leben in Afghanistan noch schwerer machen (Irak hier mal außen vor). Konkret sind die Reaktionen Teherans nicht prognostizierbar, aber in allen Hauptstädten des Westens ist man sich sicher bewusst, welche Eskalationsspirale Luftangriffe in Gang setzen könnten.

Der Westen ist überlastet
Die bankrotten USA wollten eigentlich nicht einmal in Libyen intervenieren und beteiligten sich ja so wenig wie irgend möglich. Mit Irak, Afghanistan, Libyen, dem Horn von Afrika und ihren Haushaltsproblemen sind Europäer und Amerikaner an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit angelangt. Ein fünftes Fass mit unkontrollierbarer Größenordnung wird keiner aufmachen wollen. So einer Intervention und ihre Folgen würden richtig teuer. Da die Europäer mit der Rettung ihrer Währung und die Amerikaner mit der Rettung ihres Haushalts finanziell am Limit sind, wird keiner diese Kosten aus sich nehmen wollen. Selbst wenn der Wille in der politischen Führung vorhanden wäre, ist hoch fraglich, inwieweit sich Akzeptanz in der Politik der westlichen Staaten und vor allem in der Öffentlichkeit für so ein teures Unterfangen finden würde.

Kippt die Stimmung in der arabischen Welt?
Bisher ist während der gesamten arabischen Revolution nicht eine einzige amerikanische oder israelische Flagge in Flammen aufgegangen. Wenn der Flächenbrand gerade unter Beteiligung Israels ausbricht, könnte die Stimmung vielleicht in die andere Richtung kippen.

Fazit
Syrien wird neben Somalia, Bosnien, Kosovo, Ruanda, Libyen, Sudan usw. eine weitere Fallstudie in den akademischen und politischen Debatten über humanitäre Interventionen. Warum interveniert der Westen wo (nicht)? Wenn die Welt trotz Machtverschiebungen zu Lasten des Westens und dessen knapper Kassen humanitäre Interventionen sehen wird, werden diese weiterhin nur sehr selektiv erfolgen. Bei der Frage wo interveniert wird, geht es nämlich auch um Realpolitik, Prestige und Interessen. Kosovo und Libyen liegen vor Europas Haustür und die Interventionen waren einfach durchzuführen. Ruanda war weit weg und Syrien ist ein anderes Kaliber.

Quellen:
Clarke, Richard A.; Knake Robert K. (2011): World Wide War. Angriff aus dem Web. Hamburg.
International Institute for Strategic Studies (IISS) (2011): The Military Balance. London.

Ansicht des Baaltempel in Palmyra, einer Oasenstadt in Syrien (Foto: Paul Sippel / pixelio.de)

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