Der „Islamische Staat“ in Libyen: Die unterschätzte Gefahr

Peter Lissberg │ 05. Februar 2016



LissbergDie USA und ihre Verbündeten konzentrieren sich weiterhin auf den IS in Syrien und Irak. Doch in Libyen reift ein neuer starker IS Ableger heran, der das Land als Sprungbrett nach Europa nutzen könnte. Deutschland muss seiner Rolle als Regional- und sogar Schutzmacht gerecht werden und eine Allianz schmieden.

Vermutlich hatten die meisten Deutschen den Krisenherd Libyen als potentielle Gefahrenquelle nicht mehr auf dem Schirm, als kürzlich die Meldungen zu den dortigen Friedensgesprächen über die Fernseh- und Computerbildschirme der Republik flimmerten. Syrien ist zum alles beherrschenden Interpretationsrahmen für die Geschehnisse in der Region und sogar darüber hinaus geworden.

Doch wenn sich sowohl die Öffentlichkeit als auch Entscheidungsträger fast ausschließlich auf die syrische Hexenküche konzentrieren, birgt das große Risiken. Denn während der Islamische Staat in Syrien und Irak zumindest von der Koalition und ihren Verbündeten auf dem Boden in die Zange genommen wird, hat er in Nordafrika fast unbehelligt Wurzeln geschlagen. Und das könnte den europäischen Staaten, nicht zuletzt Deutschland, schnell zum Verhängnis werden.

Libyen als Brückenkopf und Sprungbrett nach Europa
Durch das Chaos in Libyen ist es dem IS in den vergangenen Jahren gelungen, dort Fuß zu fassen. Nachdem die Terrororganisation bei ihrem ersten Versuch, einen maghrebinischen Brückenkopf im ostlibyschen Derna zu errichten, rasch unter starken Druck geraten war, ist ihr dies mittlerweile im zentral an der Küste gelegenen Sirte und Umland geglückt.

Mit Boko Haram in Nigeria und Ansar Bait al-Maqdis in Ägypten verfügt der IS bereits über schlagkräftige Verbündete in Nord- und Subsahara-Afrika. Außerdem konnte die Organisation Anschläge in Libyen und Tunesien verüben. Vor diesem Hintergrund und angesichts der finanziellen Möglichkeiten, die Libyen aufgrund der Flüchtlingsindustrie, des andauernden Waffenschmuggels und natürlich der Bodenschätze bietet, sollten wir davon ausgehen, dass der IS sein Einflussgebiet in dieser Region zu vergrößern sucht, um es als Ausweichpunkt zu nutzen – und als Sprungbrett nach Europa.

Ganz offensichtlich ist der Islamische Staat in Libyen noch nicht so stark wie in seinem Kerngebiet, unter anderem, weil er sich gegen viele Kontrahenten, beispielsweise die zwei Regierungen in Tripoli und Tobruk sowie diverse Milizen, behaupten muss. Dennoch darf der Libyenableger nicht unterschätzt werden, da seine mächtigsten Widersacher, allem voran die USA, ihre Kräfte ausschließlich in Syrien und im Irak bündeln, während sich Ägypter und Tunesier zurückhalten und die Golfstaaten unter der Führung Saudi-Arabiens weiterhin mit dem Krieg im Jemen beschäftigt sind.

Der Islamische Staat ist keine 400 km von Malta entfernt
Deshalb ist Libyen als einziger fester Stützpunkt außerhalb des IS Kerngebietes schlicht zu attraktiv für die Terrororganisation, um ihn zu vernachlässigen. Wenn man nun die Warnungen von BND und EUROPOL über Anschlagspläne des IS in Europa dazu addiert, wird noch deutlicher, wo hier das konkrete Gefahrenpotential für Deutschland liegt.

Der libysche IS Ableger ist weniger als 400 km von Malta entfernt. Ein Anschlag in der lebhaften maltesischen Partymeile „Paceville“ würde zahlreiche junge Europäer das Leben kosten und die letzte stabile Ökonomie Südeuropas lähmen. Über Sizilien und das italienische Festland mit dessen langer Nord-Süd-Achse könnten Attentäter als Flüchtlinge getarnt im Handumdrehen nach Wien oder gar München gelangen.

Falls in Zukunft ein möglicher Vormarsch des IS in Libyen noch mehr Menschen zur Flucht übers Mittelmeer drängen sollte, würde dieses Szenario für Deutschland ausgesprochen bedrohlich werden, unter anderem, weil viele von ihnen (IS Eindringlinge mit eingeschlossen) bei uns Schutz suchen würden, wie die jüngsten Erfahrungen zeigen.

Deutschland sollte seiner Rolle als Regionalmacht gerecht werden
Freiwillig oder nicht, die Bundesrepublik ist die europäische Regionalmacht und kann der Funktion als Schutzmacht im Ernstfall nicht komplett ausweichen. Zugegebenermaßen ist Deutschland zum einen keine militärische Macht und zum anderen wirtschaftlich nur vergleichsweise sehr stark – im Vergleich zu seinen krisengebeutelten EU Nachbarn.

Dennoch kann und sollte Deutschland nach Jahrzehnten des Multilateralismus, als wichtiger Verhandlungsteilnehmer bei den Ukraine- und Irangesprächen und mit gewachsener Erfahrung in auswärtigen Angelegenheiten eine Rolle dabei spielen, die wichtigsten potentiellen Akteure für Gegenmaßnahmen ins Boot zu holen. Die Bundesrepublik kann eine Anti-IS Militärallianz schmieden, und zwar aus Libyens Nachbarn Tunesien, Algerien, Niger, Tschad, Sudan und Ägypten sowie den Mittelmeermächten Italien und Frankreich, welches bereits im Kampf gegen Dschihadisten in Mali seine militärische Kompetenz bewiesen und ausgebaut hat.

Im Zuge der erfolgreichen „Opération Serval“ in Mali gingen die französischen Truppen, bestehend aus Luft- und Bodeneinheiten, gemeinsam mit der Armee der malischen Regierung und ECOWAS Truppen vor, was nichts anderes als eine gegen Dschihadisten gerichtete Allianz aus europäischen Staaten und afrikanischen Nachbarn des betroffenen Landes darstellt. Dieses Modell lässt sich also auf Libyen übertragen, wobei Deutschland militärisch gewiss nur eine unterstützende Rolle spielen wird und, wie nun bekannt geworden ist, keine libysche Einheitsregierung geschaffen werden konnte, um den Part der malischen Regierung zu spielen. Trotzdem sollte eine solche Allianz für eine Militäroperation in Libyen ernsthaft in Betracht gezogen werden, damit der Libyenableger niemals so gefährlich wird wie sein syrischer Bruder.

Leichter gesagt als getan? Mit Sicherheit! Doch aus den oben genannten Gründen können wir uns nicht (nur) auf das Engagement anderer verlassen. Der Weg von Tripoli bis zu deutschen soft targets ist ein kurzer. Deutschland kann heute, nachdem es historisch entweder zu stark oder zu schwach für einen europäischen Frieden gewesen ist, ebendiesen durch seine gegenwärtige Stärke verteidigen.

Peter Lissberg ist Konfliktanalyst und konzentriert sich auf den Nahen Osten. Er hat in verschiedenen internationalen Organisationen gearbeitet.

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