Brauchen wir eine neue Entspannungspolitik?

Joerg Wolf │ 16. Dezember 2014



61 Prozent der Deutschen finden es „gut, dass Deutschland den Ton gegenüber Russland verschärft“. Gleichzeitig wächst das Verständnis für Moskau: Jeder zweite Deutsche kann „nachvollziehen, dass sich Russland vom Westen bedroht sieht“; das sind laut aktuellem ARD-DeutschlandTrend zehn Punkte mehr als im September. Da wundert es nicht, dass ein Aufruf für eine „neue Entspannungspolitik“ auf viel Unterstützung aber auch auf viel Widerstand stieß. Welche Argumente sind überzeugender und wie können Sicherheit und Frieden in Europa am besten gefördert werden?

Horst Teltschik, enger Kohl-Berater, ehemaliger Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz und Beiratsmitglied der Atlantischen Initiative, initiierte zusammen mit Walther Stützle, Staatssekretär der Verteidigung a.D., einen Aufruf für eine neue Entspannungspolitik. 60 prominente Vertreter aus Politik, Kultur und Wirtschaft haben ihn unterzeichnet, darunter Bundeskanzler a.D. Schröder, Bundespräsident a.D. Herzog, die ehemaligen Minister Däubler-Gmelin, Schily und Vogel und auch die frühere Vizepräsidentin des Bundestages Vollmer. Sie warnen u.a.:

Niemand will Krieg. Aber Nordamerika, die Europäische Union und Russland treiben unausweichlich auf ihn zu, wenn sie der unheilvollen Spirale aus Drohung und Gegendrohung nicht endlich Einhalt gebieten. (…) Bei Amerikanern, Europäern und Russen ist der Leitgedanke, Krieg aus ihrem Verhältnis dauerhaft zu verbannen, verloren gegangen. Anders ist die für Russland bedrohlich wirkende Ausdehnung des Westens nach Osten ohne gleichzeitige Vertiefung der Zusammenarbeit mit Moskau, wie auch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Putin, nicht zu erklären.

Sie kritisieren auch: „Leitartikler und Kommentatoren dämonisieren ganze Völker, ohne deren Geschichte ausreichend zu würdigen.“

Sie appellieren an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, „aufmerksam auch über die Friedenspflicht der Bundesregierung zu wachen. Wer nur Feindbilder aufbaut und mit einseitigen Schuldzuweisungen hantiert, verschärft die Spannungen in einer Zeit, in der die Signale auf Entspannung stehen müssten. Einbinden statt ausschließen muss das Leitmotiv deutscher Politiker sein.“

 

Klaus Naumann, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, antwortete auf diesen Aufruf mit einem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

Der Aufruf spricht im Namen einer älteren Generation und soll Erfahrung und Lebensklugheit transportieren. Als einer der Alten, der den Bombenkrieg in München als Kind überlebte und der in 41 Jahren als Soldat dazu beigetragen hat, Krieg in Europa zu verhindern und Ausgleich mit Russland zu suchen, antworte ich darauf: Folgte Deutschland diesem Rat, würde der Westen gespalten, es gäbe noch mehr Konflikte und alle Sicherheit in Europa wäre dahin.

Der Aufruf manipuliert die Menschen mit einer Unwahrheit und mit einer unglaublichen Unterstellung. Er versucht sie vergessen zu lassen, dass Russland Recht gebrochen hat und in der Ukraine Krieg führt. Die Unwahrheit liegt in der Behauptung, es drohe Krieg in Europa. Das ist blanker Unsinn. Russland ist zu schwach, Krieg gegen das mit Nordamerika verbündete Europa zu führen.

Klaus Naumann kritisiert auch:

Kein Wort findet sich in dem Aufruf, dass der Annexion der Krim ein militärischer Angriff durch Russland vorausgegangen war - ein Angriff auf einen Staat, dessen territoriale Integrität Russland 1994 im Budapester Memorandum als Gegenleistung für die Abgabe der ukrainischen Atomwaffen garantiert hatte. Jede Abgabe von Atomwaffen im Gegenzug für Garantien wird künftig so unmöglich gemacht.

Bedrückend und bestürzend ist an diesem einseitigen und unausgewogenen Aufruf, dass aus ihm nur die unbegründete Angst vor einem Krieg und die Sorge um Deutschland spricht, nicht aber die Sorge um die Einheit Europas und die von Russland verletzten Werte der KSZE-Schlussakte. Auf dieser Akte ruht aber die friedliche Neuordnung Europas, bekräftigt und erneut festgehalten in der Erklärung von Paris 1990.

 

Andreas Umland initiierte einen „Gegen-Aufruf“, den mehr als 100 Osteuropaexperten aus Wissenschaft, Politik und Medien unterzeichneten. Sie kritisieren, dass die meisten der Unterzeichnenden des ersten Aufrufs, „nur geringe Expertise zum postsowjetischen Raum, wenig relevante Rechercheerfahrung und offenbar keine Spezialkenntnisse zur Ukraine sowie den jüngsten Ereignissen dort“ hätten:

Dies ist kein Zufall. Die überwältigende Mehrheit der sich aus wissenschaftlicher, zivilgesellschaftlicher oder journalistischer Perspektive mit dem heutigen Ukrainekonflikt auseinandersetzenden deutschen Forscherinnen, Aktivisten und Reporterinnen sind sich in ihrem Urteil einig: es gibt in diesem Krieg einen eindeutigen Aggressor, und es gibt ein klar identifizierbares Opfer.

Statt Entspannungspolitik fordern sie mehr Vorsicht:

Frühere Erfahrungen sollten Berlin vorsichtig machen: Im Sommer 2008 entstand im Kaukasus eine ähnlich „verfahrene Situation“ infolge Russlands faktischer Kündigung des EU-vermittelten russisch-georgischen Friedensabkommens. Obwohl Moskau dessen wichtigsten Punkt, die Rückführung seiner Truppen aus den georgischen Regionen Abchasien und Südossetien, nicht erfüllte, schlug die Bundesrepublik wenige Wochen darauf Russland eine „Modernisierungspartnerschaft“ vor. Später folgten die EU und meisten ihrer Mitgliedsstaaten dem deutschen Beispiel. Die russischen Truppen stehen bis heute in Georgien.

Sie weisen auch darauf hin:

Die Ukrainische Sowjetrepublik verlor zwischen 1941 und 1944 mindestens fünf Millionen Menschen. Über zwei Millionen Ukrainer wurden als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt. Etwa vier Millionen ukrainische Rotarmisten nahmen an der Niederschlagung des Dritten Reiches teil. Gerade wir Deutschen können nicht abermals die Augen verschließen, wenn es um die Souveränität einer postsowjetischen Republik, ja um das Überleben des ukrainischen Staates geht.

 

Was tun?
Treibt der Westen also unausweichlich auf einen Krieg mit Russland zu, wenn wir der „unheilvollen Spirale aus Drohung und Gegendrohung“ nicht Einhalt gebieten und eine „neue Entspannungspolitik für Europa (…) auf der Grundlage gleicher Sicherheit für alle und mit gleichberechtigten, gegenseitig geachteten Partnern“ einleiten?

Oder stimmen Sie dem Gegen-Aufruf zu: „Frieden sollte ohne Waffen und nicht durch die Legitimation ihres offensiven Einsatzes geschaffen werden.“

Oder hat Klaus Naumann recht, wenn er schreibt: „Der Westen, die Nato und die EU, werden alles tun, um Sicherheit vor Russland zu erreichen. Nur dann werden sie in einem neuen Dialog unter Gleichen Stabilität mit Russland schaffen können. (…) In Sicherheit vor Russland ist Stabilität mit Russland zu suchen.“

 

UPDATE: Reinhard Wolf und Gunther Hellmann von der Uni Frankfurt haben einen weiteren Gegen-Aufruf verfasst, der im Merkur auf Deutsch und bei AICGS auf Englisch erschien und dort von 50 Politologen unterzeichnet wurde:

Der Appell ist sicherlich gut gemeint. Er enthält jedoch keine konkreten Handlungsempfehlungen und verkennt die wichtigste Ursache der Krise. Gewiss: auch der Westen muss sich selbstkritisch fragen, ob er Spannungen unnötig verschärft hat. Gerade im Kontext des Assoziationsabkommens zwischen der EU und der Ukraine hätte früher auf berechtigte russische Einwände Rücksicht genommen werden können. Wer jedoch insinuiert, Bedrohungspolitik und „Sucht nach Macht und Vorherrschaft“ ginge von beiden Seiten gleichermaßen aus, verzeichnet die Politik von NATO und EU und missdeutet die grundlegenden Ziele Moskaus. Zudem ignoriert er, wie zahlreiche Historiker zurecht angemahnt haben, die historischen Erfahrungen und die Rechte der Ukraine.

Die aktuelle Politik des Westens bedroht nicht die Sicherheit Russlands, sondern nur seinen Anspruch auf eine exklusive Einflusssphäre. Das ist das wahre Ärgernis aus Moskauer Sicht. Die Ausdehnung des Einflusses von EU und NATO gefährdet Russlands vermeintliche Vorrechte als Großmacht, nicht seine physische Sicherheit. Wer Furcht als Triebfeder russischer Politik ansieht, scheint zu glauben, man hätte im Kreml gänzlich übersehen, dass Europäer und Amerikaner auch nach der russischen Georgien-Intervention ihre Militärausgaben deutlich gekürzt haben, amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik sich zunehmend auf die pazifische Region konzentriert, Präsident Obama die Pläne für ein Raketenabwehrsystem in Polen aufgegeben und das Pentagon die Zahl seiner europäischen Kampfbrigaden zuletzt auf zwei halbiert hat.

Ja, die Erweiterung von EU und NATO hat russischen Einfluss beschnitten und russischen Stolz verletzt. Aber lässt sich damit eine Politik rechtfertigen, die den Staaten Mittel- und Ostereuropas das Recht abspricht, ihre außenpolitische Orientierung selbst zu bestimmen?

 

Prof. Dr. h.c. Horst Teltschik hat für die Atlantik-Brücke eine Anwort auf den Artikel von Klaus Naumann verfasst:

Der Aufruf hat ein wichtiges Ziel erreicht. Er hat eine öffentliche und teils sehr kontroverse Diskussion darüber ausgelöst, wie die Beziehungen zu Russland einzuschätzen sind und wie sie zukünftig entwickelt werden sollten. Es kann nicht damit getan sein, wie Henry Kissinger zu Recht gesagt hat, Vladimir Putin zu „dämonisieren“. Das sei „keine Politik, sondern ein Alibi dafür, dass man keine hat“.  (…)

Der Höhepunkt war 1990, als im November alle 35 Staats- und Regierungschefs der KSZE-Mitgliedsstaaten die „Pariser Charta für ein neues Europa“ unterzeichneten. Das Ziel war gleiche Sicherheit für alle – von Vancouver bis Wladiwostok. Vereinbart war ein Katalog von Prinzipien, nach dem eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung gestaltet werden sollte. Ein gemeinsames Konfliktverhütungszentrum sollte eingerichtet werden. Jährliche Außenministertreffen waren vereinbart. Wäre von allen Seiten ernsthaft daran gearbeitet worden, wären auch die russischen Sicherheitsinteressen gewahrt worden. Daran wollten wir Autoren wieder anknüpfen, denn sowohl Präsident Medwedew wie Präsident Putin haben in Reden daran erinnert und eine vertragliche Lösung vorgeschlagen. Sie blieben ohne Antwort. Die OSZE ist in den über zwanzig Jahren zu einem Wahlbeobachtungsverein verkümmert. Heute wird mühsam versucht, die OSZE wiederzubeleben. Die USA hatten jedes Interesse an Russland verloren, nachdem sie mit Moskau das Folgeabkommen über die Reduzierung strategischer Nuklearwaffen vereinbart hatten. Viele im Westen wollen das erklärte Sicherheitsbedürfnis Russlands nicht ernst nehmen. Sicherlich ist es aus europäischer Sicht maßlos übersteigert, aber die Perzeption eines Problems ist oft entscheidender als die Realität.  (…)

Es gibt – wie die Bundeskanzlerin gerade wieder im Bundestag erklärt hat – keine Sicherheit in Europa gegen Russland. Es darf jetzt nicht aus Europa herausgedrängt werden. Deshalb ermutigt die vorliegende Erklärung ausdrücklich die Politik der Bundesregierung, „wenn sie in dieser verfahrenen Situation auch weiterhin zur Besonnenheit und zum Dialog mit Russland aufruft“. Die Forderung heißt: „Einbinden statt ausschließen muss das Leitmotiv deutscher Politiker sein“.

1 Kommentare

  1. Sven Keesmann Says:

    Inhaltlich stimme ich Naumann und Umland zu. In der Schlussfolgerung (“Was tun”) Naumann.






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