Der geistige Vorgarten Putins

Joerg Wolf │ 11. September 2014



Heute am 11. September erinnert uns Der Spiegel daran, dass wir ihn nicht mehr lesen und ernst nehmen sollten. Auf der Startseite wird getitelt: “Bundeswehr-Mission in Estland: Deutsche Kampfjets in Putins Vorgarten”

Der Spiegel suggeriert, dass Estland kein souveräner Staat sei. Kein NATO-Mitglied. Und kein EU-Mitglied, das wie wir mit Euros bezahlt. Die Überschrift warnt die ohnehin schon gegenüber Russland ängstlichen und konfliktscheuen Deutschen, dass die Bundeswehr in russischem Gebiet tätig sei. Mit dem Begriff „Vorgarten“ geht Der Spiegel sogar noch weiter als mit dem unsäglichen aber vielfach akzeptierten Verständnis von „Einflusszonen“, das die Souveränität und das Selbstbestimmungsrecht der „kleineren“ Völker nicht anerkennt. In gewisser Weise bereitet der SPON-Artikel sogar den Boden für eine Akzeptanz einer russischen Annektierung Estlands vor und könnte als „geistiger Vorgarten Putins“ beschimpft werden.

SPON

Entweder Der Spiegel nimmt den Begriff „Vorgarten“ nicht so ernst wie der typische deutsche Häuslebauer. Oder er macht aus Überzeugung Putin-Propaganda. Oder aber er ist so profitgeil, dass ihm nichts zu schade ist, um Klickzahlen und damit Werbeeinnahmen zu generieren und für „relevant“ gehalten zu werden.

Und das heute am 11. September, wenn Haltung ganz besonders wichtig ist! Das Datum steht nicht nur für Bündnissolidarität und die erstmalige Ausrufung des NATO-Bündnisfalls. Nein, 9/11 sollte nicht nur für überzeugte Atlantiker ein wichtiges Datum sein, sondern eine Mahnung an uns alle, langfristig und strategisch klug und kreativ zu denken statt die Welt mit einer rosaroten Brille zu betrachten. Aber genau das macht Matthias Gebauer in seinem Spiegel Artikel, wenn er ohne eine Begründung behauptet: “Dass die Russen tatsächlich baltische Staaten angreifen, ist unwahrscheinlich.”

Am 10. September 2001 haben es Politik, Geheimdiensten und Medien auch für extrem unwahrscheinlich gehalten bzw. überhaupt nicht für möglich gehalten, dass Al Qaeda vier Flugzeuge in ihre Gewalt bringen und die USA angreifen könnte, obwohl es viele Hinweise gab. Vielen fehlte dazu die notwendige sicherheitspolitische Vorstellungskraft, trotz eines ähnlichen Szenarios in einem Bestseller von Tom Clancy.

Viele westeuropäische und amerikanische Politiker geben sich überrascht von der russischen Politik gegenüber der Ukraine und der hybriden Kriegsführung, obwohl es viele öffentliche Hinweise auf „Putins Schlachtplan“ gab. Selbst NATO-Generalsekretär Rasmussen, der in Deutschland oft als Falke kritisiert wird, sagte noch im Oktober 2013, dass ein Krieg zwischen europäischen Nationen einfach unvorstellbar sei. („Europe is now at peace. And people feel secure, as war among European nations is simply unimaginable.“) Der polnische Außenminister Sikorski sagte in einem Interview im Mai 2013, dass er einen bewaffneten Konflikt in Europa für vorstellbar halte. Es ist höchste Zeit, dass wir Deutsche einfach mal anerkennen, dass viele unserer Annahmen zu Russland, der Ukraine, der EU-Nachbarschaftspolitik und der geliebten, aber fehlinterpretierten Wandel-durch-Handel-Strategie falsch waren und dass unsere Verbündeten im Baltikum und in Polen in den letzten Jahren doch nicht paranoid waren.

Ich sage damit nicht, dass Russland das Baltikum angreifen wird, sondern nur, dass wir ein solches Szenario nicht ausschließen sollten, weil es angeblich „unwahrscheinlich“ sei. Denn wer misst denn wie diese Wahrscheinlichkeit? Zwei Tage nachdem Obama in Tallinn versucht hat, mit Worten seine Bündnissolidarität zu demonstrieren, haben Russen einen estnischen Sicherheitspolizisten entführt.

Vorstellbar ist heute leider sehr viel. Auch die Ausrufung des NATO-Bündnisfalls. Zum zweiten Mal in der NATO-Geschichte, aber dann mit größeren Folgen für Deutschland als nach dem 11. September 2001. Daran sollten wir uns heute erinnern.

Das Datum ist eine Mahnung, dass wir die Welt nicht mit einer rosaroten Brille betrachten sollten in der Annahme, dass alle mächtigen Menschen so denken wie wir und aus wirtschaftlichem Eigeninteresse immer Diplomatie und Handel dem Krieg vorziehen. Aber auch nicht mit der Annahme, dass unsere Formen der Demokratie sich exportieren ließen und wir als „Befreier“ begrüßt würden.

Jörg Wolf ist Redakteur der Atlantischen Initiative, verantwortlich für atlantic-community.org (Twitter) und (Twitter). Er tweeted auch privat unter @transatlantic Aber auch Meinungsartikel wie dieser spiegeln nur seine persönliche Meinung wieder.

Kommentarbereich geschlossen.






Außenpolitik für alle!

Die Atlantische Initiative will einen Beitrag zur Stärkung der außenpolitischen Kultur in Deutschland leisten. Mitgestaltung außenpolitischer Prozesse muss für alle möglich sein. Dafür ist es wichtig, alle Teilbereiche der Gesellschaft besser zu vernetzen. Besonders liegt uns die Förderung von Partizipationsmöglichkeiten für die junge Generation am Herzen. Um unser Motto mit Leben zu füllen, haben wir eine Reihe von Projekten entwickelt. Wir freuen uns auf Ihre Beteiligung.

Newsletter abonnieren

Die Atlantische Initiative veröffentlicht monatlich einen Newsletter mit den Highlights von Deutschlands Agenda und Berichten über die Aktivitäten des Vereins.

Archiv