Die Chimäre vom „American Decline“

Klaus-Dieter Frankenberger │ 18. Dezember 2012



Die These von einem amerikanischen Niedergang und dem Aufstieg Chinas ist ein beliebtes Leitmotiv für Debatten in Wissenschaft und Politik. Amerika habe an Macht und Anziehung verloren, Asien und China gehörten Gegenwart und Zukunft, lautet oftmals der Tenor. Klaus-Dieter Frankenberger, veantwortlicher Redakteur der FAZ und Beiratsmitglied der Atlantischen Initiative, argumentiert, dass der Amerikanische Traum „Nicht ausgeträumt“ sei: China fehle es an politischer Glaubwürdigkeit und „soft power“, um langfristig die Stellung der USA einzunehmen.

Es war der Klassiker der politischen Folklore Amerikas, den Präsident Obama seinen Landsleute am Abend seiner Wiederwahl zurief: „Die besten Jahre kommen erst noch!“ Nicht Verzagtheit und Pessimismus nach mehr als gut zehn aufwühlenden, misslichen Jahren hatte Obama im Angebot, sondern guten, alten Optimismus und eine Zukunftsgewissheit, die anderen westlichen Demokratien so fremd ist.

Selbst im Fall der Vereinigten Staaten mutet diese Gewissheit hier und heute merkwürdig an: Eine giftige Polarisierung durchzieht Politik und Gesellschaft, die Staatsfinanzen sind außer Kontrolle, die Versuche, sie zu konsolidieren, gleichen bislang schlechtem Theater. Die Infrastruktur muss dringend generalüberholt werden, das Bildungssystem in der Breite viel besser. Und draußen wartet schon die Wachablösung: Die Asiaten kommen, mit China vorneweg. Wäre damit nicht eher demütiger Realismus angebracht? Vielleicht.

Vielleicht liegt Obama mit seiner uramerikanischen Prognose aber gar nicht so falsch, und aus dem Niedergang Amerikas, der ein beliebter Topos vor allem in Asien und in Europa ist, wird auch diesmal nichts. Denn ungeachtet aller Unzulänglichkeiten und strukturellen Probleme verfügen die Vereinigten Staaten über ein Machtpotential, das sie allen Unkenrufen zum Trotz über alle anderen Staaten, potentielle Rivalen eingeschlossen, weit hinaushebt.

Das fängt bei der militärischen Stärke Amerikas an und hört bei seiner Anziehungskraft nicht auf. Selbst wenn der Verteidigungshaushalt in den kommenden Jahren von Kürzungen nicht verschont wird, so ist die militärische Überlegenheit der Vereinigten Staaten historisch beispiellos – und das wird auch so bleiben. Die Wirtschaft befindet sich in einem Umbruch, an dessen Ende sie wohl stärker und wettbewerbsfähiger sein wird als zuvor. Und im Unterschied zu den meisten westlichen Ländern verzeichnen die Vereinigten Staaten ein Bevölkerungswachstum – auch, aber nicht nur wegen der Einwanderung, vor allem aber in einem Tempo, dass das Land in der Mitte des Jahrhunderts so viele Einwohner wie die EU haben wird.

Über Amerikas Reichtum an Ressourcen ist zuletzt viel gesprochen worden. Die Vereinigten Staaten verfügen über so viele förderungswürdige Öl- und Gasreserven, dass die energie-, wirtschafts- und geopolitischen Konsequenzen gar nicht überschätzt werden können. „Energieunabhängigkeit“ hatten sich viele Präsidenten zum Ziel gesetzt. Das Ergebnis waren regelmäßig höhere Einfuhren. Aber jetzt ist das Ziel kein Hirngespinst mehr, mit dem Nebeneffekt, dass niedrigere Energiekosten die Reindustrialisierung des Landes antreiben.

Aber sind da nicht China und die anderen Aufsteiger, die in der Weltliga des 21. Jahrhunderts vorne mitspielen und Amerika hinter sich lassen werden? Über China heißt es immer wieder, die Wirtschaftsleistung des Landes werde demnächst ebenso groß oder sogar größer sein als die Amerikas. Aber gerade im Falle Chinas sieht die Zukunft möglicherweise düsterer aus, als die Glitzerwelt der neuen Metropolen glauben machen will.

Chinas Zukunft wird nicht einfach eine Fortsetzung der goldenen Jahre sein, in der viele Millionen Menschen den Aufstieg aus der Armut geschafft haben – welch soziale Großtat! Das Tempo des Wirtschaftswachstums wird abnehmen – und den kommunistischen Herrschern ein wichtiger Legitimitätsspender verlorengehen.

Hat China wirklich die goldenen Jahre vor sich, die Amerika hinter sich hat? Wohl kaum.

Die neuen Herren werden zudem die Folgen der Ein-Kind-Politik zu spüren bekommen. Denn die chinesische Gesellschaft gehört zu denen, die am schnellsten altert. In den kommenden zehn bis fünfzehn Jahren wird der Punkt erreicht sein, an dem es weniger Arbeitskräfte gibt, aber mehr Menschen, die von deren Erträgen leben. Später wird die Zahl der Chinesen im erwerbsfähigen Alter drastisch zurückgehen, irgendwann wird die Bevölkerung schrumpfen.

China könnte an der Schlüsselaufgabe scheitern, „reich“ zu werden, ehe es „alt“ wird. Über die Möglichkeit einer Einwanderungspolitik hat die Führung noch nicht nachgedacht. Warum auch? Man kann sich kaum vorstellen, dass Menschen vor den Konsulaten für ein Visum Schlange stehen, um in China zu studieren, zu arbeiten oder um sich dort neu zu erfinden, so, wie das nach wie vor Millionen in Amerika tun wollen.

Auch an kultureller Attraktivität im umfassenden Sinne kann es China mit Amerika nicht aufnehmen. Es rüstet militärisch zur Großmacht auf, das steht außer Zweifel; in Verbindung mit einer harten Interessenpolitik beunruhigt das nicht nur seine Nachbarn. Von wegen „wohlmeinender“ Hegemon! Aber ob China für das 21. Jahrhundert wirklich gut gerüstet ist, ist eine offene Frage. Sein politisches System steht für Korruption, nicht für Partizipation und schöpferische Energie.

Amerikas Stellung wiederum wird nicht so einzigartig sein wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber der Epilog, dass Amerikas Zeit vorüber sei und künftig der „Rest“ das Weltgeschehen bestimmen werde, ist blind für die Wirklichkeit und blind für die Stärken eines Landes, dessen Innovationskraft und Fähigkeit zur Erneuerung einzigartig sind. Die amerikanische Geschichte ist nicht zu Ende.

Klaus-Dieter Frankenberger ist verantwortlicher Redakteur für Außenpolitik, Frankfurter Allgemeine Zeitung, und Mitglied des Beirates der Atlantischen Initiative. Der Artikel erschien originär in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4. Dezember 2012 auf Seite 1 unter dem Titel „Nicht ausgeträumt“. Die Veröffentlichung auf Deutschlands Agenda geschieht mit Genehmigung des Autors. 

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