Eine Volksabstimmung für Europa

Michael Roth │ 23. März 2012



Überzeugte Europäer sollten die Stimme des Volkes nicht fürchten. Viele Bürger trauen der Europäischen Union weder die Kraft noch die Fähigkeit zu, die derzeitige Staatsschulden- und Vertrauenskrise zu bewältigen. Der Verlust an Glaubwürdigkeit ist immens. Dieser deprimierende Befund ist der Nährboden für Skepsis, ja Ablehnung gegenüber weiteren Integrationsschritten. Und da können noch so viele Repräsentanten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft „mehr Europa, nicht weniger“ fordern.

Im Gegensatz zu zahlreichen anderen europäischen Staaten konnte sich in Deutschland bislang keine Partei etablieren, die die grassierenden Ängste und Vorurteile erfolgreich auszuschlachten vermag. Aus den kritischen Stimmungen sind keine Stimmen für populistische Kräfte geworden. Noch nicht! Aber es gibt die hinlänglich bekannte Taktik europhober Kräfte, immer dann eine Volksabstimmung über Europas Zukunft ins Spiel zu bringen, wenn es besonders schlecht um die EU steht. Bislang half in dieser Frage ein Blick in das deutsche Grundgesetz, das Volksabstimmungen mit Ausnahme von Länderneugliederungen nicht vorsieht. Das kann man beklagen, aber es ist nun einfach mal so.

In seiner mittlerweile mehr als 60-jährigen Geschichte hat sich das Grundgesetz als ausgesprochen integrationsfreundlich erwiesen. Nach über Jahrzehnten hinweg herrschender Auffassung stand einem vereinten Europa mit einer föderalen, demokratischen und rechtsstaatlichen Struktur nichts im Wege. Die Entwicklung Deutschlands in einer sich immer weiter vertiefenden Europäischen Union schien offen.
Doch seit den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zu den Verträgen von Maastricht und Lissabon sowie jüngst zur Verfassungsmäßigkeit des europäischen Rettungsschirms EFSF werden immer mehr die Grenzen der Mitwirkung Deutschlands am europäischen Integrationsprozess betont. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle hat die jüngsten Karlsruher Urteile mit präzisierenden Interviewaussagen flankiert. Er führt aus, dass der Rahmen für eine weitere Integration wohl weitgehend ausgeschöpft sei und es für die Abgabe von Kernkompetenzen an die EU nicht mehr viel Spielraum geben dürfte.

Nimmt man diese Worte ernst, so bedarf es keiner großen Phantasie, um ganz nüchtern festzustellen: Mehr Europa ist mit diesem Grundgesetz nicht drin. Zumindest scheint es zunehmend unwahrscheinlich, dass die Verfassungsrichter die aktuell diskutierten Vorschläge für eine stärkere wirtschafts- und finanzpolitische Koordinierung anstandslos durchwinken würden. Allen Plänen ist gemein, dass sie die haushalts-, finanz- und wirtschaftspolitischen Zuständigkeiten der Nationalstaaten im Kern antasten. Exakt diese Kernkompetenzen dürfte das Bundesverfassungsgericht im Blick gehabt haben, als es seine Stoppschilder gegen „mehr Europa“ aufgestellt hat.

Gleichzeitig weist nicht nur Voßkuhle einen (Aus-)weg: Wenn weitere substanzielle Integrationsschritte nötig und geboten sind, dann braucht Deutschland ein neues, integrationsoffeneres Grundgesetz, das dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wird. Das, was den Deutschen 1990 bei der Wiedervereinigung verwehrt wurde, nämlich die Entscheidung der Bürger über die Verfassungsordnung, wäre eine zukunftsweisende Chance für unser Land und Europa.

Daher sollte die nächste Änderung der europäischen Verträge mit einer Volksabstimmung verbunden werden, die sich auf Artikel 146 des Grundgesetzes bezieht. Ein Konvent, der sich maßgeblich aus Vertretern der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlamentes zusammen setzt, sollte sich auf die notwendige Weiterentwicklung des europäischen Vertragswerks verständigen. Ob die Bürger für eine Änderung der Europa-Verträge und damit für ein neues Grundgesetz als deutsche Verfassung stimmen, wäre dann in einer Volksabstimmung abschließend zu klären. Bei einer einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen hätte man bereits die neue Verfassung, von der unser Grundgesetz spricht. Sie hieße immer noch Grundgesetz und würde sich auch ansonsten nicht sichtbar verändern. Aber es handelte sich um eine materiell neue Verfassung, weil das Volk den in den Änderungen der Europa-Verträge liegenden Souveränitätsverzicht ausdrücklich erlaubt hätte.

Dieser Volksabstimmung ginge die Verständigung und Vergewisserung unserer Bevölkerung über Deutschlands Rolle in Europa voraus. Eine intensive monatelange Debatte über Deutschland in Europa! Fernsehsendungen, Zeitungsartikel, Diskussionsrunden überall im Lande. Dieser Diskurs ist überfällig, kein überzeugter Europäer muss ihn scheuen. Im Gegenteil! Mit manchen Vor- und Fehlurteilen ließe sich aufräumen. Mit und über Europa lässt sich die Globalisierung gestalten: demokratisch, rechtsstaatlich, sozial und nachhaltig. Volksabstimmungen bedeuten zwar keinen Automatismus für „mehr Europa“, doch sie zwingen die Politik dazu, den Menschen das europäische Projekt besser zu erklären. Voran gekommen ist das vereinte Europa immer mit mutigen Entscheidungen. Couragierte Bürger könnten der verzagten Politik Beine machen. Eine Bürgerbewegung sichert Europas und Deutschlands Zukunft! Das wäre doch was.

Michael Roth ist Mitglied des Deutschen Bundestages und Europapolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.

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